glauben, aber wer sagt, dass wir am gleichen Wege sind?“
Gerade will Hildburga zu einer weiteren ihrer uralten Geschichten anheben, als von hinten die sich vor Panik überschlagende zitternde Stimme Heriberts an ihr Ohr dringt:
„Aufgepasst, da drüben am Bach sind sie!“ Ruckartig fliegen die Köpfe der Fuhrleute herum und stieren angestrengt in die angegebene Richtung. Aufgeregte Eltern beordern die spähenden Jungen an die Wagen. Doch keiner vermag das Objekt von Heriberts Erregung auszumachen. Besorgte Worte schwirren von Wagen zu Wagen und tragen doch zu keiner Beruhigung bei. Endlich entschließt sich Hildebrand, die Fahrt zu unterbrechen.
Während die Männer mit geschärften Sinnen, die Faust fest um den Axtstiel geschlossen, aufmerksam in den Wald starren und die Frauen mit den Kindern hastig unter den Planen verschwinden, eilt Hildebrand nach vorn zu Heribert, der noch immer todbleich und mit zitterigen Händen in das Dickicht weist.
„Da … da …“, stammelt er und kann kein klares Wort hervorbringen. Aus seinem Wagen dringt ein angstvolles Wimmern, das dem Mann erst recht die Knie schlottern lässt.
Nun verliert der Kolonnenführer die Geduld. Er fasst den Kittel des Stotternden, zieht ihn mit einem Ruck zu sich herunter und gleich darauf lässt eine schallende Ohrfeige den Stammelnden verstummen. Selbst Mathildes Greinen findet in einem langgezogenen „Iihh …“ sein Ende.
„Jetzt sag endlich, was du gesehen hast, du Jämmerling!“ Die kraftvolle Stimme steigert sich innerhalb dieser wenigen Worte zu einem wahren Donnern. Noch immer vor Angst schlotternd, jedoch vom jähen Angriff zur Bewegung befähigt, würgt der schmächtige Mann hervor:
„Da war er wieder, der weiße Riese mit den Glotzaugen. Dort zwischen den Bäumen stand er und hat zu uns herüber gesehen. Ihm zur Seite waren mindestens fünf Männer, die ihm gerade bis an die Hüfte reichten.“ Heribert blick scheu hinüber und fügt zögerlich hinzu: „Es werden noch mehr werden und dann machen sie uns den Garaus!“ Wie um seinen Worten Gewicht zu verleihen, lässt er seinen Finger bedeutungsvoll über die Kehle gleiten. Als Hildebrand finster die Brauen zusammenzieht und einen Knurrlaut ausstößt, zuckt der Feigling und versucht, dem festen Griff zu entkommen. Gleichzeitig erhebt sich wieder das kreischende Gejammer aus dem Wagenkasten.
„Jetzt ist es gut, schweigt!“ Ruhig und kaum hörbar, aber in seinem kalten Zischen umso bedrohlicher, herrscht der Anführer sie an. Heinrich, der ebenfalls herbeigeeilt ist, greift nach dem Arm des Wütenden. „Den änderst du nimmer. Seine Beine werden immer braun bekleckert sein. Ob dort nun jemand war oder nicht, jetzt weiß jedenfalls auf sieben Meilen jeder, dass wir hier sind!“ Der Ältere nickt bedauernd. „Ja, eine Überraschung sind wir nicht mehr, wenn wir es denn je waren. Doch wir müssen wissen, woran wir sind! Schau nach, ob du Spuren findest und nimm dir Theobald zur Sicherung mit!“
Eilig läuft der mittelgroße, etwas schlaksig-verwegene Mann los, um seinen älteren und bereits ergrauten Freund vom hinteren Teil des Trosses zu holen. Bald sieht man die beiden in das Unterholz des Waldes eintauchen. Geschickt winden sie sich, einander sichernd, durch das dichte Gestrüpp. Wäre nicht das unvermeidbare Rascheln des Laubes zu hören, man hätte sie glatt für Schattenhalten können. Mit geradezu geisterhafter Beweglichkeit nähern sie sich im großen Bogen dem beschriebenen Platz. Jetzt dauert es nur wenige Augenblicke, bis die Gefährten auf direktem Weg zurückkehren.
„Es sind tatsächlich Spuren im Laub zu sehen. Einer wird auf dem schräg liegenden Stamm gehockt haben und andere standen darum. Vielleicht so fünf Männer können es gewesen sein.“ Heinrich nickt seinem Freund zu.
„Theo versteht etwas vom Spurenlesen.“
Hildebrand will just sein Wort erheben, als von der Spitze der Kolonne ein schriller Pfiff sein Ohr erreicht. Die aneinander gereihten Tonhöhen verkünden eine Besonderheit am Weg, ohne auf Gefahr zu verweisen. Überrascht wenden die Männer ihre Blicke in Fahrtrichtung, vermögen jedoch nichts Ungewöhnliches zu erkennen.
Aus dem Schatten der Bäume löst sich die Gestalt eines Jungen, dessen nackte Waden eilig das frostblasse Gras teilen. Die Spuren der Vorhut missachtend, sucht der kleine Läufer die Bögen auszusparen und den kürzesten Weg zu nehmen. Die angewinkelten Arme schwingen im Takt seiner Schritte, das schulterlange zerzauste Haar flattert im Wind, sein Gesicht ist vor Kälte und Anstrengung gerötet. Als er auf Rufweite herangekommen ist, tönt seine Knabenstimme dünn herüber:
„Meister Hildebrand, komm schnell, da vorn ist …“, noch bevor er den Satz beenden kann, strauchelt er und ist im gleichen Augenblick in einer Senke verschwunden. Statt seiner stiebt ein grauer Schatten zur Seite, doch noch ehe ein Blick ihn klar erfassen kann, ist er wieder fort.
„Das war doch Bernhard!“, krächzt Heribert und hat mit einem Schlag all seine Angst vergessen. „Mein Sohn, was ist mit dir?“ Von Sorge getrieben, springt er vom Bock, eilt zu der Stelle, wo er den Jungen zuletzt gesehen hat. „Bernd!“, gellt sein Ruf ihm voraus. Wenn das ein Wolf gewesen ist oder eine anderes wildes Tier?!
Da erscheint wie herbeigezaubert zwischen den welken Gräsern das Knabengesicht. „Ist nichts passiert, Vater. Nur mein Knie blutet.“ Gleich darauf kommt der kleine Held humpelnd bei seinem Vater an, der ihm erleichtert den Arm um die Schulter legt und den Jungen an sich drückt.
„Mein Gott, Junge“, würgt er hervor, „jage uns nur nicht solche Schrecken ein!“ Wenngleich dem Halbwüchsigen die liebevolle Geste gut tut, ist sie ihm doch angesichts der Zuschauer recht peinlich. Sich straffend dreht er sich aus der väterlichen Umarmung.
„Ich bin doch nur in einen Karnickelbau getreten und im Fallen auf einen Ast aufgeschlagen. Es war gar nichts!“ Damit wendet er sich wieder seinem Ziel zu und erreicht gleich darauf mehr hinkend als gehend die Wartenden.
„Na, du Bote Hinkebein, was hast du mir zu melden?“ Hildebrand hütet sich, sich zu dem Jungen herunter zu beugen, das hätte diesen sicher in seinem Stolz verletzt, wo er doch gewiss von seinen Freunden beobachtet wird. Und tatsächlich erwidert Bernhard ernsthaft und gar nicht kindlich wirkend:
„Bei Reinhold sind fünf Fremde. Sie sprechen gar seltsam, aber er kann sie wohl verstehen. Er spricht mit ihnen, aber ich höre nur itschzitschkitsch. Er hat gesagt, dass das Sorben wären und dass von ihnen keine Gefahr ausginge. Du sollst zu ihm kommen, die Sorben hätten einen Vorschlag.“
Hildebrand hebt die Schultern und streicht sich über den Bart. „Und? Was meint ihr dazu?“, wendet er sich an Heinrich und Theobald. Die beiden schmunzeln zwar noch versteckt über den Kleinen, scheinen aber dennoch unsicher zu sein. Schließlich meint Theobald:
„Wenn Reinhold das sagt, kann man dem trauen. Er kennt das Volk der Sorben schon. Aber du solltest nicht allein unterwegs sein, sonst verlieren wir im unglücklichen Falle womöglich unsere erfahrensten Leute.“
Mechthilde, die inzwischen vom Wagen geklettert und zu ihrem Sohn getreten ist, mischt sich in das Gespräch der Männer:
„Nimm doch Johannes mit. So groß und kräftig wie der ist – der nimmt es mit zwanzig Sorben auf.“ Lachend stimmt Hildebrand zu und wendet sich an Bernhard, der immer noch ganz stolz neben seinem Vater steht:
„Ich denke, trotz deiner Verwundung kannst du immer noch unser flinker Bote sein, oder? Laufe also zum sechsten Wagen, Johannes soll kommen und seine Axt mitbringen. Lasst euch aber nicht von den Sorben sehen!“ Noch ehe er den Satz beendet hat, saust der kleine Blondschopf los wie Hermes der Götterbote.
„Von wem er das wohl hat? Der Bursche scheint weder Angst noch Schmerz zu kennen.“ Bedeutungsvoll nickt Hildebrand Heribert und Mechthild zu. Heribert entgeht die Anspielung auf seine Ängstlichkeit nicht.
„Vielleicht war ich auch einmal so?! Es gab den Jungen noch nicht, als wir damals kurz hintereinander erst in die Hände der Sachsen und dann in die der Franken fielen. Da kann man schon etwas von seinem Mut einbüßen“, murmelt er beschämt.
Hildburga steht plötzlich bei ihnen, sie mag diese Seitenhiebe nicht, die in der Gesellschaft gern gegen die Schwächen Einzelner geführt werden.