stark. Er wird im nahe gelegenen Ambulatorium Dr. Löffler erstversorgt und dann sofort ins Garnisonspital gebracht. Die Menschenmenge ist geschockt, es ist ein Wunder, dass es nur wenige Verletzte gibt. Das mag auch daran liegen, dass es um diese Tageszeit bereits heiß ist und viele Zuschauer sich in Gruppen in den Schatten der Bäume am Straßenrand begeben haben.
Der junge Attentäter hat seinen Plan ausgeführt und will nun offenbar Plan B verwirklichen, seinen Selbstmord. Dazu springt er nach vollbrachter Tat über die Ufermauer in die Miljacka. Das weiße Pulver, mit dem er sich, im Fluss stehend und Flusswasser trinkend, vergiften wollte, hatte er in der Aufregung allerdings zuvor verstreut. Der Selbstmordversuch misslingt daher. Er wird festgenommen und den Behörden übergeben.
Für heutige Verhältnisse unvorstellbar: Der Konvoi setzt seinen Weg fort. Keine Rede von sofortiger Evakuierung der Insassen der Fahrzeuge. Kein ernsthafter Versuch, den offiziellen Teil des Besuches zu beenden und den Thronfolger mit seiner Frau in Sicherheit zu bringen. Nein, »business as usual« ist angesagt. Es geht weiter zum Rathaus. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.
Die letzten Schritte
Im Rathaus angekommen, unterbricht Franz Ferdinand, begreiflicherweise angesichts der Vorfälle nicht mehr ganz so entspannt wie vor Antritt der Stadtrundfahrt, die Rede des Bürgermeisters, der von Liebe und Ergebenheit der Bevölkerung zum allerhöchsten Herrscherhaus schwadroniert. Und der offenbar – wieder ein offensichtliches Versagen der Kommunikation an höchster Stelle – vom Attentatsversuch gar nichts mitbekommen hat: »Was hab ich von Ihren Reden – da kommt man zu Besuch in diese Stadt und wird mit Bomben empfangen. So, jetzt fahren Sie fort.«
Der Bürgermeister versteht noch immer nicht und bringt seine Rede irgendwie zu Ende. Unter den Honoratioren der Stadt herrscht Ratlosigkeit, wie es nun weitergehen soll. Seine Sophie würde der Erzherzog gerne in Sicherheit wissen, sie soll zurück nach Ilidza oder zumindest in den Konak, den Wohnsitz des Landeschefs, wo das Mittagessen stattfinden soll. Freundlich, aber dezidiert weist sie diesen Vorschlag zurück: »Solange der Erzherzog sich heute in der Öffentlichkeit zeigt, verlasse ich ihn nicht.«
Graf Franz Harrach als »Schutzschild« für den Thronfolger
Franz Ferdinand will den verletzten Oberstleutnant Merizzi im Spital besuchen, bevor man dem offiziellen Programm weiter folgt, das Landesmuseum besucht und dann als Abschluss ein spätes Mittagessen einnimmt. Die Wagen starten also. Oberst Bardolff gibt dem Chauffeur des ersten Wagens den Befehl, mit möglichst hoher Geschwindigkeit den Appelkai entlangzufahren, zum Garnisonspital. Nicht, wie ursprünglich geplant, durch die Franz-Joseph-Straße und durch den Stadtkern zum Konak. Und nun passiert’s, das Unglück nimmt seinen Lauf. Die beiden ersten Wagen biegen bei der Lateinerbrücke zur Franz-Joseph-Straße ab – falsch! Das wäre die ursprüngliche Route gewesen! Der Erzherzog will jedoch zum Garnisonspital. Der Wagen mit meinem Urgroßvater bleibt weisungsgemäß hinter den beiden ersten Fahrzeugen.
Als Feldzeugmeister Potiorek im Wagen des Thronfolgers den Irrtum bemerkt, gibt er dem Chauffeur sofort Befehl, zu wenden, über den Appelkai weiterzufahren und erst beim Garnisonspital zu halten. Der Fahrer bremst ab und beginnt zu reversieren. Es folgen die dramatischen Sekunden jenes Augenblickes, der nicht nur ein glückliches Ehepaar plötzlich aus dem Leben reißt und drei Kinder zu Vollwaisen macht. Er löst eine Völkerschlacht aus, die 15 Millionen Menschen das Leben kostet und Österreich fast vollständig von der Landkarte verschwinden lässt.
An diesem warmen, schönen Sonntagvormittag steht der Attentäter Gavrilo Princip, mit einer Pistole bewaffnet, mitten unter den zahlreich die Straße säumenden Zuschauern. Hochrufe sind zu hören, winkende Menschen stehen in Gruppen, die meisten entlang der Häuserfront, wo die Bäume Schatten spenden. Weit weniger Zuseher sind auf der anderen Straßenseite zu sehen, entlang des Flusses. Dort brennt die Junisonne kräftig vom Himmel. Dem Attentäter scheint das nichts auszumachen. Hier kann er sich besser vorbereiten, ungehindert in Position stellen. Er wartet – und hat leichtes Spiel. Denn es gibt nach wie vor so gut wie keine Sicherheitsvorkehrungen. Die wenigen anwesenden serbischen Polizisten, für die gesamte Stadt gerade einmal 120 an der Zahl, machen keinen sehr wachsamen Eindruck. Auch haben der Erzherzog und seine Frau noch immer keine Leibwächter dabei. Heutzutage unvorstellbar!
Die letzte Fahrt beginnt.
Das Fahrzeug mit dem Thronfolger und der Herzogin von Hohenberg muss also kurz halten. Diese Sekunden genügen. Schüsse peitschen durch die Luft. Aus nicht einmal zwei Meter Entfernung schießt der junge Bosnier zweimal und trifft fatal genau. Erst die Bauchschlagader der Fürstin, dann mit dem nächsten Schuss den Erzherzog in die Halsschlagader. Sekundenlang sitzt das Thronfolgerpaar noch aufrecht im Wagen. »Um Gottes Willen, was ist Dir geschehen?«, soll Sophie ihren Mann, aus dessen Hals bereits Blut quillt, noch gefragt haben. Dann sinkt sie nach vorne, ihr Körper rutscht vom Sitz, und es sieht aus, als sei sie ohnmächtig geworden. Sophie, meine Urgroßmutter, stirbt.
Das Attentat (zeitgenössische Illustration)
»Sopherl, Sopherl, stirb mir nicht, bleib für unsere Kinder«, soll mein Urgroßvater geflüstert haben. Wenn man aber die schwere Verletzung (rechte große Halsschlagader zerrissen, Schilddrüse zerfetzt, Ringknorpel der Luftröhre zertrümmert) bedenkt, war dies schwer möglich. Verzweifelt gedacht haben mag er es indessen schon …
Der Erzherzog spürt, dass das Ende gekommen ist. Graf Harrach versucht, das Vorsinken des Kopfes des Thronfolgers, aus dessen Mund ein dünner Blutstrahl spritzt, zu verhindern, er stützt ihn durch Festhalten am Rockkragen und fragt: »Leiden Eure kaiserliche Hoheit sehr?« Franz Ferdinand soll einige Male, immer leiser werdend, das Bewusstsein verlierend, geflüstert haben: »Es ist nichts.« Auch diese Worte mögen vielleicht durch Lippenbewegungen angedeutet worden sein, ein hörbares Sprechen war mit der tödlichen Verletzung kaum noch möglich.
Meine Urgroßeltern verbluten innerhalb kürzester Zeit. Obwohl der Fahrer sofort reagiert und innerhalb von zwei Minuten beim Sitz des Landeschefs eintrifft, um dort die Erstversorgung in die Wege zu leiten, kommt jede ärztliche Hilfe zu spät. Die beiden leblosen Körper werden über die Treppe in den Konak hineingetragen, wo die Ärzte um 11.00 Uhr nur noch den Tod feststellen können. Die im Protokoll nüchtern festgehaltenen Todesursachen lauten: inneres Verbluten durch Eindringen eines 9-mm-Projektils in den Unterleib – in die Bauchaorta – der Herzogin von Hohenberg; Durchschlagen der Halsschlagader und der Luftröhre des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este. Wenig später wird die Aufbahrung der Verstorbenen veranlasst, kurz nach 11.00 Uhr sind bereits die ersten Totenglocken aus der katholischen Kathedrale zu hören.
Kurz nach dem Attentat spielten sich tumultartige Szenen ab.
Eine Verkettung unglückseliger und zum Teil auch mysteriöser Umstände führte zum alles entscheidenden, tödlichen Zwischenfall. Es gab und gibt bis heute eine Unzahl an Mutmaßungen, warum an jenem Schicksalstag das Fahrzeug des Thronfolgers genau vor die Mündung des Attentäters geriet. Oder geraten musste?
Fast unheimlich mutet es an, wenn man Vernehmungsprotokolle der Augenzeugen liest und sich des Eindruckes nicht erwehren kann, dass der Doppelmord leicht hätte verhindert werden können. Und dass ein Attentäter am Werk war, der weder als Soldat noch als Waffennarr bezeichnet werden kann. Der jedoch eine so tödliche Präzision an den Tag legte, wie sie selbst ein geübter Scharfschütze kaum zuwege gebracht hätte.
Der Bombenwerfer Nedeljko Čabrinović (+) wird von der Polizei