Christiane Scholler

Er war mein Urgroßvater


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oder wenigstens Lächeln kam für diesen Mann nicht infrage. Diese Haltung kommt nicht von ungefähr. Um den Menschen hinter der nachdenklichen und ernsten Fassade zu ergründen und anderen zugänglich zu machen, habe ich mich entschlossen, in diesem Buch meinen Urgroßvater ins Zentrum der Betrachtungen zu stellen. Wenn Sie nun also mehr über den Thronfolger erfahren und dabei die vielen anderen Familienmitglieder, deren Gesichter Sie in den Schlossräumlichkeiten betrachten können, zum Teil nur erwähnt werden, so wissen Sie jetzt, warum. Ich will das Andenken an diesen großen Mann und Vordenker so bewahren, wie es ihm gebührt. Es geht mir dabei nicht darum, die Geschichtsschreibung zu beeinflussen; aber es gibt mir das gute Gefühl, meinem Urgroßvater ein sehr persönliches Denkmal der etwas anderen Art zu setzen.

       Herausforderung durch die Familie

      Wenn Sie sich nun selbst die Frage stellen: Was hat mich in meinem Leben wirklich nachhaltig beeinflusst?, dann kommt fast sicher die Antwort: Kindheit, Zuhause, Familie, Eltern, Geschwister, Großeltern, selbstverständlich auch Lehrer und Mitschüler, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel. Geschwister können Freunde sein, die das Leben schenkt, sie können aber auch der berühmte Haken sein im Lebenslauf, der vieles entscheidet.

      Niemand kann sich aussuchen, in welche Familie er oder sie hineingeboren wird. Der alles entscheidende Zufall, das Entstehen des Menschen, seine genetisch bedingten Anlagen, seine Geburt, Kindheit und Jugend – all das kann großes Glück oder tiefstes Unglück bedeuten.

      Ab dem Zeitpunkt des Erwachsenwerdens können wir zumindest bedingt Einfluss nehmen auf unser Leben. Entscheidungen treffen, andere mit einbeziehen, manches tun, anderes lassen. Was auch immer wir beginnen: Nie wird der Einfluss von Geburt und Familie aus unserem Leben völlig wegzudenken sein. Ein Faktum, das auch bei sehr einfacher Familienstruktur mit wenigen Geschwistern oder Einzelkindern kaum zu leugnen ist.

      Umso größer ist die Herausforderung, wenn man in eine Familie hineingeboren wird, die nicht nur eine der größten Dynastien Europas darstellt, sondern auch noch als »kaiserliche Familie« bezeichnet wird. Da die Lebensgeschichten der Mitglieder des Hauses Habsburg mit seinen vielen Seitenlinien zahllose dicke Bücher füllen, soll hier – aus dem oben genannten Grund – nur auf den engsten Kreis um den Thronfolger Franz Ferdinand eingegangen werden. Wo ist er geboren worden, wie ist er aufgewachsen, was hat ihn geprägt? Wieso wurde er überhaupt zum Thronfolger? Und woher kommt die Bezeichnung seines Namens »Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este«?

       Hohe Geburt in Graz

       Der Vater: Erzherzog Carl Ludwig, der um drei Jahre jüngere Bruder von Kaiser Franz Joseph; die Mutter: dessen zweite Frau, Prinzessin Maria Annunziata, Tochter von König Ferdinand II. beider Sizilien (um 1863)

      Geboren wurde mein Urgroßvater am Morgen des 18. Dezember 1863 um 7.15 Uhr in Graz, an der Adresse »Sackgasse 18«. Sein Vater war Erzherzog Carl Ludwig, der um drei Jahre jüngere Bruder Kaiser Franz Josephs, geboren am 30. Juli 1833 in Schönbrunn. Franz Ferdinands Mutter war Carl Ludwigs zweite Frau, Prinzessin Maria Annunziata, die Tochter von König Ferdinand II. beider Sizilien.

       Der fünfjährige Erzherzog Franz Ferdinand bei einer von seinem Vater so geschätzten Theateraufführung, 1868

      Bereits jetzt wird die Geschichte etwas kompliziert, denn Franz Ferdinands Vater Carl Ludwig war insgesamt nicht ohne Grund dreimal verheiratet. Die erste Ehefrau, Margaretha (Tochter des Königs Johann von Sachsen), verstarb bereits nach knapp zwei Jahren kinderloser Ehe blutjung, mit nur 18 Jahren, an Typhus. Drei Jahre später heiratete der inzwischen 29-jährige Erzherzog Carl Ludwig die damals 19-jährige Maria Annunziata. Mit ihr führte er eine einigermaßen glückliche, wenn auch nicht allzu lange Ehe, denn auch sie verstarb nach relativ kurzer Zeit. Sie erlag der Lungentuberkulose. Ein Schicksal also, das sich in tragischer Weise wiederholte und damals keine Seltenheit war. Krankheiten, deren Diagnose und Therapie (beziehungsweise deren Vorbeugung) heute selbstverständlich erscheinen, kosteten vor rund 150 Jahren vielen, leider auch sehr jungen, Menschen das Leben.

      Maria Annunziata wusste um ihre Erkrankung und spürte, dass sie nicht alt werden würde. Auch deshalb versuchte sie, in ihr kurzes Leben hineinzupressen, was nur irgendwie möglich war. Dazu gehörte auch die Hoffnung, aus der »Provinz«, als die sie die Stadt Graz empfand, wegzukommen und in die Großstadt Wien zu ziehen. Ihr gutmütiger und ihren Wünschen stets gern nachkommender Ehemann erfüllte diesen Wunsch. Die Familie zog daher 1868 in ein Palais in der Wiener Favoritenstraße. Dort kam auch, nach dem 1865 geborenen Otto, der zweite Bruder Franz Ferdinands zur Welt, der Ferdinand Karl Ludwig genannt wurde.

      Hier, im Schloss Artstetten, das der Familie Erzherzog Carl Ludwigs auch als Sommersitz diente, erblickte dann noch ein viertes Kind die Welt. Das kleine Mädchen wurde auf den Namen Margaretha Sophia getauft. Die damals schon sehr schwache und schwer kranke Mutter war damit am Ende ihrer Kräfte. Sie kämpfte noch ein Jahr lang gegen den Tod, der schließlich am 4. Mai 1871 eintrat.

       Der siebenjährige Franz Ferdinand mit seinen Brüdern Ferdinand (zweijährig) sowie Otto (fünfjährig), Schwester Margaretha Sophie war gerade geboren (1870)

      Die junge Frau hinterließ dem nun zum zweiten Mal Witwer gewordenen Carl Ludwig also vier Kinder: Franz Ferdinand (* 1863) sowie dessen Brüder Otto (* 1865) und Ferdinand (* 1868) und Margaretha Sophia (* 1870). Das wäre auch in heutigen Tagen keine einfache Situation. Neben der Trauer um die geliebte Ehefrau plötzlich mit vier kleinen Kindern dazustehen und, als guter Familienvater, den innigen Wunsch zu haben, den Kleinen ein halbwegs geordnetes Familienleben bieten zu können.

       Die Bedeutung der Stiefmutter

      Was also tun? Es galt, eine Frau zu finden, die nicht nur als liebende Ehefrau, sondern auch als treu sorgende Mutter infrage kam. Für vier ihr fremde Kinder, die noch einen weiten Weg vor sich hatten. Es spricht sehr für die Person und Persönlichkeit Erzherzog Carl Ludwigs, dass sich tatsächlich die ideale Partnerin für ihn fand: in der Person der 18-jährigen Prinzessin Maria Theresia von Braganza, Infantin von Portugal, die nach der Hochzeit mit Carl Ludwig 1873 Erzherzogin Marie Therese genannt wurde. Zur Wahl dieser Ehefrau hatte die Mutter Carl Ludwigs, Erzherzogin Sophie, wie immer ihren nicht unbeträchtlichen Beitrag geleistet.

      Das fast Unglaubliche geschah: Die Kinder bekamen eine junge, liebevolle und fürsorgliche Stiefmutter, und endlich kehrte wieder Familienglück im Hause des Erzherzogs ein. Dieses wurde schließlich perfekt durch die Geburt der kleinen Maria Annunziata 1876 sowie einer weiteren Schwester, Elisabeth, die 1878 zur Welt kam. So könnte man meinen, Carl Ludwig konnte zum Glück seiner Kinder den Satz »Was lange währt, wird endlich gut« in jeder Hinsicht bestätigen.

      Geht man zurück in die prägenden Jugendjahre Erzherzog Franz Ferdinands, so konnte er trotz des Schicksalsschlages, die leibliche Mutter früh verloren zu haben, eine glückliche und schöne Kindheit erleben. Das harmonische Familienleben inmitten vieler Geschwister muss in ihm schon früh den Wunsch geweckt haben, es später einmal auch so gut zu treffen: mit einer Frau, die man aus Liebe heiratet und mit der man eine glückliche Kinderschar heranwachsen sehen kann.

       Die Stiefmutter: Maria Theresia von Braganza, Infantin von Portugal, nach der Hochzeit mit Carl Ludwig 1873 Erzherzogin Marie Therese genannt

      Die Leistung Erzherzogin Marie Thereses ist bewundernswert. Sie gab der Bezeichnung »Stiefmutter« eine völlig neue Bedeutung, zum Glück für die Kinder und die gesamte Familie. Die liebevolle Stiefmutter stand in ziemlichem Gegensatz zum Wesen Maria