Christiane Scholler

Er war mein Urgroßvater


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und gar nichts Ordentliches wissen.« Das könnte eigentlich auch ein Gymnasiast der heutigen Zeit geschrieben haben!

      Noch viel weniger für den Ernst des Lebens geeignet schien der jüngere Bruder Otto. Er war immer zu Streichen aufgelegt, stets lustig, nur selten brav und eifrig. Unterschiedlicher könnten zwei Brüder kaum sein: Franz Ferdinand als eher ernster Charakter, Otto als ausgelassener, heiterer Knabe. Ich bin selbst Mutter von vier Kindern und weiß daher sehr gut, was es heißt, möglichst gerecht sein zu wollen und niemanden zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Vor diesem Problem standen auch damals Eltern und Pädagogen.

      Psychologisch vielleicht verständlich, erzieherisch aber ein Jammer: Sowohl die Lehrer als auch der Vater »bevorzugten« immer wieder den fröhlichen Otto. Nie bewusst, oft kaum merklich, aber für den älteren der beiden Brüder, Franz Ferdinand, ein echter Frust. Kein Wunder, dass diese Kinder- und Jugendjahre nicht spurlos an ihm vorübergehen konnten. Und durchaus nachvollziehbar, dass die von ihm latent empfundene »Zurücksetzung« aus ihm einen eher zurückgezogenen, manchmal auch verdrossenen und sehr ernsten jungen Menschen machte. An dieser Stelle nochmals Hochachtung für die junge Stiefmutter, die alle Geschwister gleich behandelte und liebte, und auch keine Unterschiede machte, als sie ihrem um so viele Jahre älteren Mann noch zwei Töchter schenkte.

       Vom Glück auf dem Land

      Franz Ferdinand (»Franzi«, wie er damals gerufen wurde) und seine Geschwister liebten die Sommermonate auf dem Land. Zum Glück hatte der Vater Freude an der Natur, der Ruhe und auch der Jagd. Erzherzog Carl Ludwig verbrachte ab dem Jahr 1863, dem Geburtsjahr Franz Ferdinands, Spätfrühling und Sommer mit der Familie gerne in Artstetten, wo er auch Bürgermeister war. Ihm ist der Einbau eines Badezimmers sowie von kaltem und warmem Fließwasser im Schloss zu verdanken. Heute ist das eine Selbstverständlichkeit, damals war es eine kleine Sensation.

      Auch der wunderschöne Schlosspark wurde unter Erzherzog Carl Ludwig zwischen 1861 und 1866 landschaftlich umgestaltet und ist im damaligen Stil in vielen Bereichen bis heute erhalten. Die großräumige und abwechslungsreiche Gliederung, die den Parkgarten größer erscheinen lässt, als er tatsächlich ist, und die Errichtung der Wege gehen auf ihn zurück. Als begeisterter Schwimmer ließ er auf einer kleinen Anhöhe des Parks ein Schwimmbecken errichten, das damals auch als Löschteich diente, sowie den sogenannten Badepavillon im Stil eines Sommer-Lusthäuschens.

      Ein weiteres beliebtes Sommer-Reiseziel der Familie war die Villa Wartholz, die Erzherzog Carl Ludwig bei Reichenau an der Rax hatte bauen lassen. Der Auftrag an den Architekten war eindeutig. Kein Prunkbau sollte entstehen, sondern ein geräumiges, gemütliches Haus mit viel Platz für eine große Familie, wo alle das Landleben genießen konnten. Mit ihren Türmen und dem großzügig angelegten, vorgelagerten Balkon war sie ein Musterbau ihrer Zeit, vom damals sehr populären Architekten Heinrich von Ferstel perfekt geplant als hoch gelegenes Haus mit freiem Blick über das Tal, wie es sich durch die Lage förmlich angeboten hatte. In der Sprache der heutigen Immobilienmakler wäre wohl von einem »Traumhaus in einzigartiger, unverbaubarer Grünruhelage« die Rede. Carl Ludwig aber war der großartige Ausblick nicht so wichtig. Er wollte vor allem seine Ruhe haben. Also ließ er rund um die 1872 fertiggestellte Villa einen parkartigen Wald anlegen, der jeden Einblick verhindern sollte. Dort war das Paradies, wo es für alle so etwas wie ein »freies Leben« ohne strengen Tagesablauf und minutiös eingeteilten Zeitplan gab. Welches Kind wäre nicht darüber glücklich, so richtig schön Ferien machen zu können?

      Ferien in der freien Natur genießen – dazu gehört auch ein wenig Abenteuer. Genau das Richtige für den Ältesten in der Familie! Nicht von ungefähr war bereits in frühen Jahren das Interesse für die Jagd bei Franz Ferdinand geweckt. War doch der Vater nicht nur ein besonders geduldiger Angler, sondern auch ein deklarierter Freund des Waidwerks. Es liegt auf der Hand, dass der Junge hier eine Schiene in Richtung des Herzens seines Vaters legen konnte. Und er tat dies mit echter Begeisterung. Er war noch nicht einmal neun Jahre alt, als er seinen ersten Jagderfolg verbuchen konnte. Dazu gratulierte ihm sein fünf Jahre älterer Cousin, Kronprinz Rudolf, in einem sehr netten und persönlichen Brief aus Bad Ischl (der »Papa«, von dem die Rede ist, ist natürlich der Kaiser selbst): »Dein lieber Brief freute mich sehr, und Papa hat mich beauftragt, Dir vielmals für Deine guten Wünsche zum Namenstage zu danken. Ich gratuliere Dir vielmals zu Deinem ersten Wild, ich kann mir denken, wie es Dich gefreut hat […] Ich bleibe Dein Dich liebender Rudolf.«

      Schon aus diesen wenigen Zeilen geht hervor, dass es einen guten Draht zwischen Franz Ferdinand und Kronprinz Rudolf gegeben haben muss. Die beiden verstanden sich großartig. Das Lob des älteren Cousins hat den Jüngeren sicher sehr stolz gemacht – ein weiterer Grund, die Jagd im Auge zu behalten und bereits als Bub richtige Jagdtagebücher zu führen. Es ist für mich auch aus heutiger Sicht fast rührend, zu sehen und nachzuempfinden, welch großes Interesse mein Urgroßvater an der Natur und allem, was damit zusammenhängt, hatte. Über eine erlegte Schnepfe konnte er zum Beispiel mehrere Seiten schreiben, ohne dass ihm langweilig wurde. So wie es für junge Menschen typisch ist, hatte auch er etwas gefunden, das ihn weit mehr faszinierte als Geschichtsbücher, Staatstheorie oder Ungarisch als Amtssprache.

      Es mag sein, dass sein Bruder, der »fesche« und charmante Otto, der bessere Reiter und Fechter war. Umso größer aber muss der Ansporn für Franz Ferdinand gewesen sein, etwas zu lernen, das ihm wirklich Freude machte und das er bis zur Perfektion beherrschen konnte. Damit war das Feuer entfacht: Die Jagd und die damit verbundene Herausforderung, ein erstklassiger Schütze zu sein, wurden seine große Leidenschaft.

      Warum ich es so wichtig finde, die Kindheits- und Jugendjahre Franz Ferdinands im Kontext der Umgebung und seiner Familie zu sehen? Weil man die Beweggründe für viele Entscheidungen, etliche Grundlagen für Vorlieben und Schwächen, soziales Verhalten und einiges mehr, das im Erwachsenenleben wichtig ist, in der Kindheit und der nächsten Verwandtschaft finden kann. Wer sich für den Menschen Franz Ferdinand interessiert, kann ihn nur dann plastisch begreifen, wenn er die Gesamtheit der lebensentscheidenden Umstände kennt.

       Erzherzog Carl Ludwig und Erzherzog Franz Ferdinand als Leutnant des Infanterie-Regiments Nr. 32 mit dem Orden vom Goldenen Vlies (1878)

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