wo ein Mensch sich sein Unglück holen kann. Hier gibt es Schandnickel – “
„Trag du keine Sorge, Bruder Bernhard, ich gehe morgen früh schon wieder fort.“ – „Eh, wo willst denn hin?“
„Zu Verwandten nach Neuhaldensleben.“ – „Ja so! ob de Vetterstrate [Vetternstraße]! Na, da haste och recht; wenn du enmal zweiunddreißig bist, wie ich, da gehste nicht mehr in der Fremde rum, was?“ Er nahm nun gute Nacht und empfahl sich.
Mein alter Schweriner ging nach der Feierstube, sagte aber erst: „Brüderchen, sis en Wort! Morgen bring ich dir auf den Weg nach Neuhaldensleben, gute Nacht!“
Den andern Morgen suchte ich gleich die Feierstube auf, bot jedem die Hand. „Guten Morgen, Brüder! will einer mit abwandern? In einer Stunde gehe ich fort.“ – „Nein, Brüderchen“, sagte ein kleiner dicker Spandauer, „heute jeht doch noch keener.“ Alle waren artig; ich fragte nach dem Schweriner.
„Das alte Pferd liegt noch hinterm Ofen auf seinem Grundstück“, sagte der Stralsunder, ging hin und stieß ihn mit dem Fuße an. „He, Bruder Schweriner, steh auf! Dein Urenkel ist da, du sollst ihn zur Frau Muhme führen.“ Ich tat, als hörte ich es nicht. „Adieu, Kameraden, lebt wohl, auf Wiedersehen!“ – Damit machte ich, daß ich hinunter in die Gaststube kam, wo ich bei der Frau Mutter zwei Portionen Kaffee bestellte.
Nachdem ich eine halbe Stunde zum Fenster hinausgesehn hatte, kam auch mein Alter mit Rock und Stock, Hut und gewichsten Stiefeln an, trank mit Kaffee und eine Stunde darauf standen wir auf dem Neuhaldenslebener Wege, umarmten uns und nahmen zärtlichen Abschied voneinander.
Nun war ich wieder allein mit meinen Gedanken. Der nächste schweifte zurück zu den Pappelbäumen bei Quedlinburg. Vorgestern um diese Zeit – ach, Lenchen klopfte derb an mein Herz! Aber Luise Bechstedt, die schöne Frau Muhme, zog auch, jedoch auf eine andere Art, die ich mir damals noch nicht erklären konnte. Nachmittags um vier Uhr stand ich im Neuhaldenslebener Gasthof vor dem Spiegel; der Hausknecht hockte mein Bündel auf und schlug den Weg nach dem Schulenburgischen Gute, dem „Dözel“, ein – ich hinterher.
Wir kamen in einen großen Hof hinein und auf meine Frage nach dem Herrn Amtmann wies man mich zu seinem Wohnzimmer. Jetzo wurde ich den Amtmann gewahr; er kam aus einem Seitengebäude, ich ging auf ihn los, grüßte ihn und sagte: „Ich bin aus Langensalza.“ – „Alle Teufel! das ist ja Vetter Bechstedt! Na, kommen Sie nur gleich mit zu meiner Frau, die schwatzt alle Tage von ihrer Verwandtschaft!“
Er faßte mich derb bei der Hand; wir waren noch zehn Schritte vor der Tür, da ging sie auf und wer trat heraus? – Ach! ich schnappte nach Atem. „Vetterchen, Vetterchen Bechstedt!“ kam die Muhme gesprungen, mir geradezu um den Hals.
Der Amtmann ließ mich fahren und lachte, was er konnte. Sie zog mich bis in die Stube aufs Sofa und drückte und küßte mich noch ein paarmal, bis der Amtmann wieder dazu kam. Nun ging’s Erzählen los. Nachdem ich alles aus Langensalza berichtet hatte, sollte ich auch meine achttägige Fußreise beschreiben.
Armes Lenchen! von dir durfte ich nichts sagen, das tat weh; aber desto mehr dachte ich an dich, wenn ich allein war. Und doch hörte dies Nachseufzen allmählich auf; nach einem halben Jahr bedrückte es meine Seele nicht mehr, wenn ich an Lenchen dachte; es blieb mir nur eine leichte und schöne Erinnerung.
Nach einigen Tagen war ich auf dem Dözel eingerichtet, hatte eine Kammer für mich, schrieb einen langen Brief nach Hause, ging mit dem Vetter fleißig auf seine Länderei und bat ihn, mir was zu tun zu geben. Ich mußte dann mit dem Hofmaier und später auch öfter allein nach Tost und nach Liberitz gehn, zwei Vorwerken, die auch zum Gute gehörten, jedes etwa eine Stunde entfernt.
Der Amtmann war ein kluger Ökonom, ein bißchen derb, aber gutmütig; er sprach mit den Leuten stockplatt. Auch die Muhme sprach plattdeutsch mit ihren Mägden, was ich von ihrem schönen Schnabel und bei dem Nachtigallklang ihrer Stimme für mein Leben gern hörte. Der älteste, vierjährige Junge konnte nichts anderes als Plattdeutsch und der kleine von zwei Jahren machte auch schon: „Vetter Becktät.“
Nach und nach wurde ich gewahr, daß die Frau Muhme gar sehr hitzig, ja boshaft werden konnte. Ich bin dazugekommen, daß sie vor der Stalltüre eine Magd bei den Haaren hatte und so furchtbar abpatschte, daß deren Kopf noch einmal so dick und fuchsrot wurde. Da ertönte die grell klingende Pfeife des Amtmanns, die er stets in der Tasche trug, die Magd kriegte noch eine Zugabe – und die Frau Amtmännin ging mit scharfen männlichen Schritten auf ihre Stube.
Ich ging auch, aber zum Tore hinaus, traf auf den Hofmaier und deutete von dem eben Erlebten etwas an. Er meinte, die Magd sei zwar ein sehr leichtsinniges Mädchen, das die Schläge wohl verdient habe, aber die Frau Amtmann sollte sich doch mehr beherrschen. Es käme sonst kein ordentliches Mädchen mehr ins Haus, sondern lauter freche Deerns, die sich durchbissen und nicht einmal ehrlich wären. Er wollte mir noch mehr solche Dinge erzählen, doch mir war, als schicke es sich nicht für mich, das anzuhören.
Ich ging ins Backhaus, wo ich noch Brot im Ofen hatte. Gleich in den ersten Tagen schon hatte ich den Brotteig gemacht, den Ofen geheizt, eingeschoben und ausgebacken und da das Brot recht schön geraten war, glänzte die Frau Muhme im ganzen Gesicht vor Freude. Bei solcher Gelegenheit kriegte ich einen Kuß und ein paar Patsche auf die Backen von ihr, denn sie behandelte mich wie ihr Kind, obgleich sie mir nicht vorkam wie meine Mutter.
Einstmal hatte ich auf dem Vorwerk Tost zu tun, da sagte ein Knecht: „Dort kimmt de Fru Amtmann!“ – „Ei, wo denn?“ fragte ich. „Dort uf em Pferd.“ Wahrhaftig! Sie kam geritten wie ein Husar. Bein nüber und rüber; denn sie hatte Hosen an und nur ein leichtes Röckchen drüber her. Sie hielt nun Revision in allen Ecken; dann schrieb sie einen Brief, den mir die Wirtschaftsmagd herausbrachte. „Sei söllen glicks te Huse gahn un dit den Herrn bringe, het Fru Amtmännin segt.“ Ich sah mich um, die Muhme winkte mir aus der Bodenluke freundlich zum Fortgehen.
In einer halben Stunde stand ich vor dem Amtmann. Er las und lachte. „So ist sie, alles will sie strikte nach ihrem Kopfe haben. Es täte not, ich käme nun gleich hin und prügelte die Leute – und das geht doch nicht an.“ Er fügte noch hinzu: „Das schöne Erbstück des Jähzorns hat sie von ihrem Vater“ (dem Bruder meines Großvaters Bechstedt), „der ein gar grimmiger Hitzkopf gewesen ist. Im Siebenjährigen Kriege hat er Glück gehabt mit seiner Hitze und ist rasch zum Leutnant avanciert, aber als Obereinnehmer in Halberstadt hat sie ihm manchen Taler gekostet, daher er denn auch nichts hinterlassen; der Sohn hat Grobschmied werden müssen und die Tochter ins Waisenhaus spazieren.“
Das hatte seine Richtigkeit. Im Waisenhaus hat sie so gut Rechnen und Schreiben gelernt, daß sie mit dem fünfzehnten Jahr schon in einen Ladendienst eintreten konnte. Von da ist sie auf ein großes Gut als Wirtschafterin gerufen worden, wo der wohlhabende Herr Verwalter Bär sie kennenlernte und sich in die schöne Luise verliebte. –
Am Dözel fließt die Ohre vorbei, ein Fluß wie unsere Unstrut, geht auf Neuhaldensleben, treibt mehrere Mühlen und zieht sich nach der Elbe. Zwei Stunden weit hatte mein Vetter die Fischerei; diese Strecken fuhren wir mit einem Kahne, den sechs bis acht Tagelöhner zogen, dem Wasser entgegen. Drei- bis viermal wurden Garne quergestellt und bei der Rückfahrt ein Streichgarn nachgezogen vom Kahne bis ans andere Ufer reichend, wo ein Tagelöhner im Wasser gehen mußte. Bei jedem Quergarn wurde Halt gemacht und die Fische herausgeholt. Es gab sehr viel Fische von allerhand Sorten. Bei dem Zufahren mußte immer an den Ufern ins Wasser gestoßen werden mit Stangen, woran hohle Klötzer waren, damit die Fische hervorkamen und mit dem Streichgarn vorwärts nach dem Quergarn zugetrieben wurden. Am Kahn war ein großer Fischkasten festgemacht, der wurde auf die Letzte ganz voll.
Am Abend war Fischschmaus. An die dreißig Leute, Tagelöhner, Knechte und Mägde, der Hofmaier an der Spitze, bekamen vollauf Fische und Weißbier. Am Herrentische aber gab’s ein gut Glas Wein und die Fische waren delikat zubereitet, worin die Frau Muhme Meisterin war.
An demselben Abend noch sah ich vom Fenster herab, daß die Frau Muhme ein gesattelt Pferd herausführte und zu ihrem Manne sagte: „Da, Vaterken, riete, riete! Dau kannst et glefen, et is wieder nix, als dau hetst