gewesen, sonntags und montags sind sie nur je einmal aktiv geworden, und das - wie bei allen ihren Unternehmungen - stets abends. Dabei sind die Kerle bei aller Brutalität offensichtlich nicht auf das ganz große Geld aus. Eine gut organisierte Bande ist das todsicher nicht. Die würde sich lohnendere Ziele aussuchen. Einmal haben die Täter den letzten Linienbus der BVG von Müggelheim nach Köpenick gekapert und versucht, an die Einnahmen des Schaffners zu kommen. Die beiden gewitzten BVGer schüttelten die Banditen im wahrsten Sinne des Wortes ab, ohne das Geld rauszurücken. Auch in dem Bus hatte einer der Räuber geschossen, die Kugel fand sich in der Rückenlehne des Fahrersitzes.
Die Kerle schrecken wirklich vor nichts zurück. Dabei fällt die Beute oft genug sehr bescheiden aus. Welches Liebespärchen im Grunewald trägt größere Geldbeträge mit sich herum? Ein Wunder überhaupt, dass immer noch welche so unvorsichtig sind, es dort im Auto miteinander zu treiben. Die zahlreichen Polizeistreifen stoßen immer wieder auf solche sorglosen Zeitgenossen.
Im Präsidium ist es kein Geheimnis, dass der Kommissar Busch selber oft mit seiner jungen Frau zum Kleinen Stern fährt und dort lange Abende und kalte halbe Nächte im Wagen verbringt, ohne dass die Räuber bisher aufgetaucht sind. Stattdessen geht vermutlich der Überfall auf die Stationskasse des S-Bahnhofs Grunewald auf ihr Konto.
Kappe grient vor sich hin. Das wäre was für Klara: mit ihm in inniger Umarmung in einem engen Auto zu hocken und auf einen bewaffneten Überfall zu warten! Der Führer hat es befohlen, kann er ihr ja weismachen, dass die Ehefrauen nationalsozialistischer Beamter ihre volle Einsatzbereitschaft zu zeigen haben! Ein Orden ist sicher, wenn das Lockvogelspiel gelingt …
Besser nicht! Auf seine seltenen Späße hat Klara noch nie beifällig reagiert. Kappe setzt sich an den Schreibsekretär und versucht, an etwas anderes zu denken als an den ewigen Dienst. Der Berliner Lokal-Anzeiger, den ihm Karl-Heinz vom Kiosk geholt hat, meldet nichts Aufregendes, sieht man davon ab, dass in der letzten Woche eine Bande von achtzig Hehlern und Einbrechern verurteilt worden ist, die vornehmlich im Westen Berlins ihr Unwesen getrieben hatte. Wo sonst? Das Geld ist nun einmal in Charlottenburg, Wilmersdorf und Zehlendorf zu Hause und nicht östlich und nördlich vom Alex, wo die Ganoven wohnen und die alten Ringvereine in den letzten Zuckungen liegen. Denen ist es seit 1933 an den Kragen gegangen. Berufsverbrecher eben, auf die es die neue Staats- und die Polizeiführung besonders abgesehen haben. In den KZs sitzen etliche der alten Garde, weitere Aktionen sind angedroht.
Gennat, dessen Gesundheitszustand seinen Untergebenen in letzter Zeit ziemliche Sorgen bereitet, hat nur trocken gelacht, als von seinem Dezernat Listen für in Vorbeugehaft zu Nehmende angefordert wurden. Mörder gelten erst nach der Tat als Verbrecher, hat er geknurrt. Ich wüsste trotzdem, wen wir hoppnehmen müssten …
Über Pommern hat ein Schneesturm getobt, liest Kappe. Berlin ist noch mal gut weggekommen. Heiter und kühl verspricht das Wetter zu bleiben. Alle vor 1933 geprägten Silberstücke, die sogenannten Wagenräder, verlieren am 1. April 1937 ihre Gültigkeit. Künftig gelten nur die Neuprägungen der Zwei- und Fünfmarkstücke mit dem Konterfei Hindenburgs und der Potsdamer Garnisonkirche.
Schließlich entdeckt Hermann Kappe doch noch einen Artikel, der ihn interessiert: Große Deutsche, die unter dem Zwei-Kinder-System nicht gelebt hätten. Auf was die alles kommen, um die Fruchtbarkeit des Volkes, angeblich ohne Raum, zu mehren! Er braucht sich mit seinen drei Gören nicht angesprochen zu fühlen, außerdem sind Klara und er ja aus dem Alter glücklicherweise raus. Aber die zarte Margarete - will er sich seine Tochter als sechsfache Mutter vorstellen? Oder Hartmut als vierfachen Vater? Hermann Kappe der Ahnherr einer Horde von Pimpfen und Jungmaiden?
Die Argumente in dem Artikel klingen überzeugend. Bei nur zwei Kindern pro Familie hätte Deutschland auf Albrecht Dürer, Friedrich den Großen, auf Kant, Bismarck und Richard Wagner verzichten müssen.
Auf Hermann Kappe nicht, denkt er beruhigt. Nach seinem Bruder Oskar ist er der Zweitgeborene. Pauline ist vier Jahre jünger, und schon in ihrer Kindheit hatte Oskar gelästert: Wenn Schwestern notwendig sind - warum hat der liebe Gott dann keine? So weit geht Hermann Kappe nicht. Er mag Pauline und ihren Mann, den Koch Hans Achtow, auf seine Art. Nur dass die beiden neben der hübschen Tochter Hildegard einen Dumpfbeutel wie den Sohn Max gezeugt haben, ist unverzeihlich. Kappe schüttelt sich, wenn er an den ebenso aufgeblähten wie dämlichen Neffen denkt, der ihm zuletzt in SS-Uniform begegnet ist. In manchen Familien genügen wirklich zwei Kinder!
MORD AN DER HUNDEKEHLE
HANNA UND BRUNO kennen sich seit einem Jahr. Bruno Lietz, der noch zu Hause bei Muttern in SO 36 wohnt, hat Maurer gelernt und Arbeit bei einer Firma gefunden, die in Karlshorst eine Pionierschule errichtet. Hanna, eine rotblonde Schönheit mit aufregenden Beinen, war ihm ein paar Mal morgens in der S-Bahn begegnet, bis ihre Blicke ihm genug Mut eingeflößt hatten, sie anzusprechen. Seitdem fahren sie jeden Morgen gemeinsam mit der S-Bahn, wobei Bruno gerne einen Umweg in Kauf nimmt, um schon an der Jannowitzbrücke zu ihr in den verabredeten Wagen zu steigen und nicht erst an der Warschauer Brücke. Hanna wohnt am Hackeschen Markt und arbeitet in der Eisfabrik in Rummelsburg. Wenn Bruno sie an sich drückt, hat er eher das Gefühl, er wärme sich an einem Backofen, aber das kann auch daran liegen, dass er für sie glüht.
Hanna ist neunzehn, Bruno zwei Jahre älter. Jeden Tag muss er damit rechnen, dass ihn die Wehrmacht einzieht und er seine Hanna nicht mehr regelmäßig sehen kann. Sein Chef versucht, ihn zu beruhigen: «Wir bauen hier fürs Militär, da wird jede Hand gebraucht.»
Über Ostern hatten sie eigentlich wegfahren wollen, irgendwohin aufs Land, wo man in einem Heuschober übernachten konnte, doch das kalte Wetter hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nun sind sie am Sonntag zur Wassersportausstellung am Funkturm gefahren und haben sich am Abend mit Hannas Freundin Edith und deren Verlobten Erwin getroffen, um gemeinsam etwas zu unternehmen. Erwin, der in Charlottenburg zu Hause ist, hat zum Entzücken der Mädchen vorgeschlagen, in der Waldschenke am Bahnhof Grunewald tanzen zu gehen. Bruno musste notgedrungen zustimmen, obwohl er alles andere als ein begnadeter Tänzer ist.
Die Stimmung im Bahnhofsrestaurant ist ausgelassen, nur die Musik könnte nach Erwins und der Mädchen Geschmack etwas weniger altdeutsch sein. Bruno ist das einerlei, solange er seine Hanna fest an sich pressen und mit den Händen tief über ihre Rückenpartie fahren kann. In dem Gewimmel auf der Tanzfläche fällt das kaum auf, zumal wohl die meisten Pärchen auf das Gleiche aus sind, egal ob Rheinländer, Schmalztango oder Foxtrott gespielt werden.
Viel zu früh kündigt Berthold Wurzbacher, der Wirt, den letzten Tanz an. Sperrstunde, da kennt die Polizei auch hier draußen keinen Spaß. Beamte laufen genug herum, die meisten in Zivil. Dass im Grunewald keine Holzauktion stattfindet, sondern die Räuber umgehen, weiß jeder.
«Die sollen mal kommen!», sagt Bruno lachend und spannt die kräftigen Schultern. Er hat keine Angst vor Räubern, schon gar nicht nach den fünf, sechs Bier, die er intus hat.
Der Alkohol verleiht auch dem schmalschultrigen Erwin Mut.
«Ich denke, die sind jetzt abgehauen in den Osten», meint er. «Jedenfalls werden die wohl kaum jemanden direkt hier an der S-Bahn überfallen.»
Der Meinung sind auch die Mädchen. Dass man den angebrochenen Abend noch nutzen muss, ist ausgemachte Sache.
Die Auerbachstraße mündet nach kaum hundert Metern in den Uferweg am Hundekehlensee. Links liegen die Tennisplätze, am Ufer stehen Bänke, und so kalt ist es nun auch wieder nicht. Bruno lässt sich auf die nächste Bank fallen und zieht Hanna auf seinen Schoß. Vom Wasser her weht es kühl, doch das spüren sie nicht.
Edith und Erwin sind ein Stück weitergegangen und hinter den Uferbüschen verschwunden, da nähert sich von der Auerbachstraße eine dunkel gekleidete Gestalt. Bruno und Hanna sind viel zu beschäftigt miteinander, um sie wahrzunehmen. Erst als der Mann direkt vor ihnen steht und ihnen der Taschenlampenstrahl in die Augen sticht, reagiert Bruno.
«Mach die Funzel aus, aber dalli!», murrt er und schiebt sicherheitshalber Hanna von seinem Schoß.
«Halt’s Maul! Geld her, oder es kracht!» Tatsächlich zeigt der Kerl im Lampenschein eine Pistole.