geführt hat. Er kennt alle Raubüberfälle seit 1934 aus dem Effeff, hat nächtelang die Akten studiert und manche halbe Nacht selber auf der Lauer verbracht. Am liebsten wäre er auch weiterhin «draußen» geblieben, doch sein Freund, der Staatsanwalt Henkel, hat seine Beziehungen spielen lassen, und nun ist er zum Chef der soeben gebildeten Sonderkommission «Autofallen» berufen worden, vermutlich auf Nebes Anweisung.
Kappe sind die Hintergründe von Buschs Einsatz gleichgültig. Er hat den Eindruck, dass Nebe eine gute Wahl getroffen hat.
«Wir werden uns schon zusammenraufen», sagt er zu dem Jüngeren, der ihn von Anfang an geduzt hat, wie es unter den jüngeren Beamten und Parteigenossen mittlerweile üblich ist. Busch ist kein Parteigenosse, wie Kappe zu seiner Erleichterung bald erfährt.
Sie machen sich an die Arbeit. Gemeinsam mit Busch muss er noch einmal gründlich die Freundin des Lietz und deren Freundin vernehmen, außerdem den Verlobten, den Wirt der Waldschänke und die Gäste, soweit man ihrer habhaft werden kann.
Das Ergebnis ist einigermaßen niederschmetternd. Zwar erweist sich die rotblonde Hanna als eine couragierte Zeugin, die ihre Tränen nur mühsam zurückhält, aber gesehen hat sie leider so gut wie nichts. Verschreckt von der Waffe, geblendet von der starken Taschenlampe und aus Angst um ihren Freund in Panik, hat sie nicht mehr bemerkt als eine untersetzte Gestalt mit einer Schirmmütze auf dem Kopf. So schnell sie konnte, war sie zur Telefonzelle am Bahnhof gelaufen und hatte die Polizei verständigt. «Mord!», hatte sie ins Telefon geschrien. Dann war sie zusammengebrochen, wofür sie sich noch immer schämt. Ihren Bruno hat sie nur noch einmal kurz gesehen.
An dieser Stelle lässt sie ihren Tränen freien Lauf, wofür Busch und Kappe Verständnis haben.
Die anderen Zeugen wissen noch weniger, um nicht zu sagen, gar nichts. Edith und Erwin haben den bewusstlosen Bruno vor der Bank gefunden und vergeblich nach Hanna gerufen, bis endlich die Polizisten auftauchten. Ein einzelner Mann ist ihnen nicht aufgefallen, weder auf dem Uferweg noch vorher in oder vor der Gaststätte.
Auch der Wirt, sichtlich mitgenommen von dem Mord, kann nichts Erhellendes über den Täter mitteilen. Er ergeht sich in Vermutungen über den Zusammenhang des Verbrechens mit dem Überfall auf die Bahnhofskasse Ende September 1936. Das Raubdezernat hat ihn schon damals gründlich und ohne Ergebnis vernommen.
Als Wurzbacher den Raum verlassen hat, schaut Kappe den Kollegen Busch fragend an. «Was war das für ein Überfall?»
Busch weiß alles darüber. «Die gleiche Nummer wie vier Wochen zuvor in Rahnsdorf», erläutert er. «Die Fahrkartenverkäuferin hatte gerade das Geld gezählt, als jemand irgendwo am Gebäude eine Scheibe einschlug. Sie öffnete die Tür, um nach dem Rechten zu sehen, vor ihr stand ein maskierter Mann, drängte sie in den Raum zurück und nahm das Geld. In Grunewald haben sie die Scheibe zum Kassenraum eingeschlagen, durchgefasst und die Tür aufgeriegelt. Sie sind rein, griffen das Geld vom Zahlbrett, dazu die Geldtasche - und weg waren sie. Das Kleingeld haben sie in der Eile liegenlassen.»
«Es waren also mehrere?»
«Zwei. Und du kannst sicher sein: Es waren unsere beiden. Der eine steht Schmiere oder lenkt durch die eingeschlagene Scheibe ab, der andere schießt, wenn es nötig scheint.» Busch sieht Kappe an.
«Ich habe dem Lohr lange nicht glauben wollen, dass alle diese Raubtaten von den gleichen Brüdern begangen werden, egal ob im Grunewald, in Rahnsdorf, Schmöckwitz oder bei Müncheberg. Wir haben zeitweise bis zu vier verschiedene Tätergruppen vermutet.» Heinrich Lohr, ein gestandener Mittfünfziger der alten Schule, ist Kriminalsekretär bei E I 5. Kappe kennt und schätzt ihn. Er fragt: «Und jetzt bist du sicher, dass der Lohr recht hat?»
Busch nickt. «Davon bin ich überzeugt. Mal sehen, was die Waffenfritzen diesmal rausfinden.»
Ein erstes Gutachten liegt vor. Den Kommissar Müller, Schusswaffen-Experte beim Reichserkennungsdienst, hat man am Ostermontag vom Frühstück weggeholt. Er hat festgestellt, dass es sich bei der am Tatort gefundenen Patronenhülse um die einer Zentralfeuer-Revolverkugel RWS 320 handelt, abgefeuert eventuell aus einer Selbstlade-Pistole Kaliber 7,65. Der Schlagbolzeneindruck liegt exzentrisch, am Hülsenboden-Wulstrand sind Auszieherkrallen-Spuren sichtbar. Eine genauere Untersuchung ist notwendig.
Professor Brüning meldet sich erst im Laufe des Dienstag vom Osterausflug zurück. Die Hülse liegt auf seinem Schreibtisch. Am Abend ist auch er sicher, dass die Patrone nicht aus einem Trommelrevolver, sondern aus einer automatischen Pistole 7,65 Millimeter abgefeuert worden ist. Aus der gleichen nämlich, die bei der Ermordung des Oberwachtmeisters Herrmann und bei zwei weiteren Autofallen-Überfällen verwendet worden ist.
Damit besteht endlich Gewissheit, dass es sich immer um dieselben Banditen handelt. Doch das macht die Sache nicht besser. Zwei einzelne Ganoven, die die Reichshauptstadt samt Umgebung tyrannisieren und Europas modernste Kriminalpolizei seit Jahren an der Nase herumführen!
Kappe ist nicht wohl dabei, als er erkennen muss, welche Bedeutung diese Soko Autofallen plötzlich hat, der er seit heute auf Gennats persönliche Weisung angehört.
«Ist der nicht zu alt?», beanstandet Nebe, als Gennat ihm die endgültige Zusammensetzung mitteilt. Wahrscheinlich erinnert er sich daran, dass Kappe jener sagenhafte Kommissar ist, der unter gelegentlichen Narkolepsie-Anfällen leidet …
Gennat beruhigt ihn: «Kappe ist noch keine fünfzig. Der Mann hat die richtige Nase für den Fall.»
«Na gut. Solange er dabei nicht einschläft …», sagt Nebe spöttisch.
Davon, dass Hermann Kappe einer der letzten nicht akademisch gebildeten Kommissare ist und immer noch sozialdemokratischer Gesinnung und Umtriebe verdächtigt wird, ist zwischen den beiden nicht die Rede. Nebe hat längst begriffen, dass man alleine mit Doktoren und strammen Nationalsozialisten keine zuverlässige Polizeiarbeit leisten kann.
KATASTROPHEN
HARTMUT KAPPE ist von der Fliegerei besessen. Seit er sich bei der HJ zu den Segelfliegern gemeldet hat und tatsächlich auch schon eine Runde über dem Flughafen von Johannisthal mitgeflogen ist, spricht er von nichts anderem. Sein Vater kann das verstehen, hat er doch selber mal in jungen Jahren für die Fliegerei geschwärmt, inzwischen allerdings eingesehen, dass ihn die Höhenangst daran hindern wird, sich jemals so einem Metallstorch anzuvertrauen. Und Segelflugzeuge bestehen sogar nur aus Sperrholz und Leinwand.
Hartmuts Begeisterung tut das keinen Abbruch. «Runtergekommen sind sie bis jetzt alle», erklärt er übermütig.
Seine Mutter schlägt vor Schreck die Hände zusammen. «Was du redest, Junge! Wenn ich mir vorstelle, du trittst einmal fehl und rutscht durch die Leinwand! Was sagst du dazu, Hermann?»
Kappe zuckt die Achseln. «Das sind die modernen Zeiten, Klara. Wir werden uns an mancherlei gewöhnen müssen.»
«Aber doch nicht an Flugzeuge aus Stoff! Die Ju, von der dauernd die Rede ist, besteht doch auch aus Blech …»
Hartmut will sich ausschütten vor Lachen. «Aus Blech, Mutti! Das ist hochwertiges Aluminium. Aber beim Zeppelin zum Beispiel besteht die Außenhaut nur aus Leinen und Baumwollbahnen. Die sind mit einer Zelluloselösung und Aluminiumpulver bestrichen. Die Propeller sind aus Holz.»
«Na, ich würde in so ein Ding nie einsteigen. Sind denn die vielen Passagiere nicht zu schwer dafür?»
Wieder lachen die Männer. «Der LZ 129 trägt bis zu 240 Tonnen, da könnte selbst die dicke Waluga mitfahren.» Gemeint ist die Gemüsefrau in der Lebuser Straße, bei der Klara oft einkauft.
«Mit fliegen », verbessert Klara.
Doch Hartmut weiß es besser. «Ballons und Luftschiffe fahren », beharrt er. «Alleine 88 000 Liter Dieselöl kann der Hindenburg mitnehmen. Als Antrieb dienen nämlich vier spezielle Dieselmotoren von Daimler-Benz. Sechzehn Zylinder in V-Anordnung, wassergekühlt.» In seiner Begeisterung merkt er gar nicht, dass Klara längst in der Küche verschwunden ist und auch sein Vater ihm kaum zuhört. «1200 PS Höchstleistung», schwärmt er weiter. «Damit sind die eins-fix-drei