sich ein Bild von der heutigen Schönheit dieses Landstriches machen können.
Traditionsverbände halten die Verbundenheit der Ostpreußen und ihrer Nachkommen am Leben und vielleicht sagen die Enkel irgendwann tatsächlich interessiert: »Opa, erzähle mir von Ostpreußen!«
ALS JUNGLEHRERIN NACH OSTPREUSSEN
Unruhig flackernd spendete die blau geblümte Deckenlampe in der kleinen Küche fahles Licht, das Schatten auf die mit Leimfarbe gewalzten Muster an den Wänden warf und eine bedrückende Atmosphäre bereitete.
Seit bei einem Fliegerangriff auf die Stadt Köln auch das Elektrizitätswerk in Mitleidenschaft gezogen wurde, kam es immer wieder zu Schwankungen im Stromnetz und stundenlangen Stromabschaltungen, doch Paul und Elfriede Knieschitz waren froh, überhaupt bei Licht in ihrer Küche in der Rothehausstraße in Köln-Ehrenfeld sitzen zu können. Viele ihrer Bekannten hatten bei den vergangenen Bombenangriffen sogar ihre Wohnungen verloren.
Nachdem Köln in den letzten Monaten bereits einhundert Bombenangriffe überstanden hatte, bildeten der dreißigste und einunddreißigste Mai 1942 den bisher unbestrittenen Höhepunkt der Bombardements. Über 1000 englische Bomber hatten an jenem Tag bei der »Operation Millennium« große Teile der Stadt in Schutt und Asche gelegt und viele Tote und Verletzte gefordert. Spätestens seit diesem Tag, der als »Der Tag der tausend Bomber« in die Geschichte Kölns einging, lebten die Menschen in ständiger Angst.
Die sonst so fröhlichen und aufgeschlossenen Kölner wurden apathisch und waren tief über den Verlust nahestehender Menschen und ihrer geliebten Stadt in ihrer menschlichen Seele getroffen.
Viele Einwohner verließen sogar die Stadt und zogen zu Verwandte in weniger gefährdete Gebiete.
Im Raum war es ziemlich warm, denn die Julisonne meinte es seit Tagen fast zu gut, doch den Bewohnern war es verboten, nachts bei elektrischem Licht die Fenster zu öffnen, um die kühle Luft in die Zimmer zu lassen. Seit den schweren Fliegerangriffen herrschte strengster Verdunkelungsbefehl.
Elfriede Knieschitz saß ihrem Mann am Küchentisch gegenüber und drehte wohl zum hundertsten Mal einen Brief. der bereits ziemlich zerknittert war, zwischen ihren Händen.
Adressiert war dieser Brief an ihre Tochter Katharina, der Absender war das Schulamt in Königsberg.
Auf diesen Brief wartete ihre Tochter bereits seit Wochen, denn sie hatte sich gleich nach ihrem bestandenen Examen zum Einsatz als Lehrerin beworben.
In einem Antwortschreiben der Schulbehörde Köln hatte man ihr damals Hoffnung gemacht, eine Stelle in einer Schule in Ostpreußen besetzen zu können.
Der »Kölner Anzeiger« hatte berichtete, dass in jenem Landesteil Deutschlands pädagogische Unterstützungsarbeit geleistet werden musste und deshalb zahlreiche Lehrerstellen zu besetzen waren.
Die männlichen Lehrkräfte waren zur Wehrmacht eingezogen worden, um den Bolschewismus vor den Toren des Landes abwehren zu helfen. Das sollte Katharinas Chance als Unterstufenlehrerin sein. In jenem Brief würde sie nun die Antwort auf ihre Bewerbung lesen können.
Elfriede schaute ihren Mann bange an und fragte: »Paul, sage du mir doch eins. Soll ich unserer Tochter den Brief geben? Es könnte bedeuten, dass uns Katharina dann bald verlässt und vielleicht über 1.000 Kilometer weit von uns fort zieht.«
Paul Knieschitz schaute seine Frau lange still an und sagte dann: »Wir haben unsere Tochter zur Ehrlichkeit erzogen. Wie können wir da einen Brief unterschlagen, der vielleicht entscheidend für ihr Leben sein könnte? Sie hat ihr Examen mit Bravour bestanden und fiebert nun darauf, Kinder unterrichten zu dürfen. Es steht uns nicht zu, eine Entscheidung zu treffen, die nur unsere Tochter selbst treffen kann. Außerdem ist in Ostpreußen tiefster Frieden und wie man hört, hat der Russe wohl nicht die Absicht seine Hände nach Ostpreußen auszustrecken. Also ist sie dort sicherer als hier in Köln. Hast du etwa den einunddreißigsten Mai bereits vergessen? Es ist doch gerade erst acht Wochen her. Wir können froh sein, dass unser Haus noch steht, anderen erging es schlechter. Denke einmal an die Menschen in Deutz oder in der Altstadt.«
Elfriede Knieschitz seufzte und sagt dann: »Sicher hast du recht, aber ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, unser Kind so bald zu verlieren.«
Sie musste allerdings ihrem Mann, der Probleme immer analytisch anging und in seinem Leben stets aufrichtig und geradlinig handelte, beipflichten. Den Schluderjan gab es bei ihm nicht, schließlich war er Beamter der Kölner Stadtverwaltung, und darauf war er sehr stolz.
Kurz nach diesem Gespräch, kam ihre Tochter Katharina vom Besuch bei Tante Ida heim, die ein paar Straßen weiter, in der Lessingstraße in einem sogenannten Dreifensterhaus wohnte. Das Haus war bei dem verheerenden Bombenangriff Ende Mai, wie durch ein Wunder, ebenfalls unbeschädigt geblieben.
Dieses Haus besaß tatsächlich in jeder Etage nur drei Fenster. Im Erdgeschoss waren es neben der Eingangstür sogar nur zwei. Das war der altpreußischen Bauordnung geschuldet, die besagte, dass Bewohner, deren Häuser maximal zwanzig Fuß, also sechs Meter und achtundzwanzig Zentimeter breit waren, keine Steuern entrichten mussten.
Nach hinten wurden die Häuser dann allerdings, je nach Grundstücksgröße, erheblich ausgebaut. Da entstanden Läden, Werkstätten oder mancherlei Lagermöglichkeiten, sogar kleine Gastwirtschaften etablierten sich in den hinteren Räumen.
Das Mädchen sah ihre Eltern recht bedrückt am Küchentisch sitzen und ahnte instinktiv, dass es eine entscheidende Neuigkeit gegeben hatte. Auf dem Tisch sah sie den Brief liegen. Sie schaute ihre Eltern abwechselnd fragend an.
Ihre Mutter schob ihr daraufhin den Brief entgegen und sagte mit brüchiger Stimme: »Hier, mein Kind! Das ist der Brief, auf den du so sehnsüchtig gewartet hast.«
Die Tochter nahm den Brief an sich und öffnete ihn sofort, im Beisein ihrer Eltern, denn die waren doch genauso gespannt auf die Entscheidung des Schulamtes. Hastig entnahm sie dem Couvert das für sie so wichtige Schriftstück, las die wenigen Zeilen und über ihr Gesicht huschte ein glückliches Lächeln: »Sie wollen mich einstellen!«, triumphierte sie. »Schon in zwei Wochen soll ich mich im Kirchen- und Schulamt in Königsberg melden, um alle Formalitäten zu erledigen. Meinen Dienst werde ich dann in Loditten antreten!«, zitierte sie aus dem Brief.
»Wo liegt denn dieses Loditten?«, wollte die Mutter nun neugierig wissen und Vater holte eine Landkarte aus dem Schubfach der Anrichte, um selbst nachzuschauen.
»Frau, gib mir doch mal meine Lesebrille«, bat er.
Elfriede Knieschitz drehte sich auf ihrem Stuhl herum und angelte die Brille von der Kopfstütze des Sofas, wo sie auf der Zeitung lag, die ihr Mann vor ein paar Minuten noch gelesen hatte.
Inzwischen hatte er sich mit einem Lineal ausgerüstet, das er als Orientierungshilfe auf die Karte legte. Mit dem Zeigefinger fuhr er von links nach rechts am Lineal entlang und las leise vor sich her murmelnd die jeweiligen Orte vor.
»Hast du es gefunden?«, fragte seine Frau nach geraumer Zeit ungeduldig und ihr Mann brummte: »Dann hätte ich es doch gesagt!«, und suchte emsig weiter.
Katharina las die wenigen Zeilen bereits zum siebenten oder achten Mal, doch es gab da keinen genauen Anhaltspunkt, wo sich dieser Ort befand.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie schaute noch einmal in den Briefumschlag und entdeckte tatsächlich einen Zettel, auf dem die nähere Beschreibung der Ortschaft »Loditten« notiert war.
»Hier, Papa. Da steht die Bahnstation drauf und auch eine Wegeskizze ist dabei!«, triumphierte Katharina.
Paul Knieschitz nahm die Wegbeschreibung in die Hand und las darauf den Namen der Bahnstation »Zinten«.
Anhand der Wegbeschreibung erfuhr die Familie nun, dass Katharinas Reise von Köln aus über Dortmund und Hannover nach Berlin-Charlottenburg führen wird. Dort muss sie für eine Nacht Quartier nehmen, um am darauffolgenden Tag vom Stettiner Bahnhof in Berlin-Charlottenburg über Dirschau und Elbing zunächst nach Königsberg zu fahren.
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