sie musste die Strecke mit ihrem Gepäck nicht laufen.
Ihr Weg führte sie auf der Straße südöstlich von Zinten aus in Richtung Preußisch Eylau einer hügeligen Landschaft entgegen, die »Der Stablack« genannt wurde, einer im Tertiär von Moränen geprägten Landschaft.
Nach einigen Kilometern bog der Bauer mit seinem Fuhrwerk allerdings auf eine mit Feldsteinen gepflasterte schmale Straße ab, wie sie überall in der Gegend zu finden war. Der Randbereich der Straße war sandig und für Fahrradfahrer ungeeignet.
Während der Fahrt paffte der Bauer, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, und fragte mit zusammengebissenen Zähnen, wo das Marjellchen denn eigentlich zu Hause ist.
Katharina antwortete ihm wahrheitsgemäß, dass ihre Heimat Köln ist und fragte, wohin er sie denn bringen würde.
»Nach Loditten«, war die kurze Antwort.
»Nein, ich meine, wo ich untergebracht werde.«
»Davon wejß eck nuscht nich, eck soll das Frollejn erst mal zum Birjermejster bringen«
Nun war Katharina auch nicht viel schlauer als vorher.
Sie nahm sich vor, sich einfach überraschen zu lassen.
Der Bauer paffte und plauderte mit rollendem »R« und obwohl Katharina nicht alles verstand, konnte sie sich doch bereits ein gewisses Bild von Land und Leuten machen.
Die Pferde zogen den Wagen munter eine längere Steigung empor. Links und rechts säumten nun Linden die Straße und bildeten eine lange Allee.
Ab und zu konnte sie die Entfernung zurück nach Zinten auf einem der Begrenzungssteine am Straßenrand ablesen.
Von der Kuppe der Steigung erkannte Katharina inmitten von Bäumen die Kirche eines Dorfes und auch die Hausdächer mit roten Ziegeln. Das musste Loditten sein. Ihre Anspannung wuchs, doch auch ihre Erwartung an die kommende Zeit.
Ihr gefiel die sanft hügelige Landschaft auf Anhieb und wenn alle Menschen so zugänglich waren wie der Kutscher, dann würde es ihr in Loditten sicher gefallen.
Sie passierten die ersten Häuser, die mit roten gebrannten Ziegeln gemauert waren. Neben den Haustüren stand meist eine Holzbank, auf der zum Feierabend die älteren Hausbewohner saßen und mit ihren Nachbarn plachanderten. Zuweilen waren Holzpantinen an die Wände gelehnt, um die guten Schuhe nicht unnötig abzunutzen oder sie im Stall zu beschmutzen.
Kinder trieben schreiend mit ihren Peitschen kleine Holzkreisel vor sich her, Katzen rekelten sich im Schein der Nachmittagssonne auf Fenstersimsen und Hunde stromerten neugierig durch das Dorf. Es war eine friedliche Idylle an jenem Sommertag im August 1942.
Laut klappernd zogen die beiden Pferdchen den Wagen über das Feldsteinpflaster. Die Räder verursachten mahlende Geräusche auf den Steinen und dem losen Sand im Randbereich der Straße und hinterließen in ihm eine tiefe Rinne.
Hinter der ersten Biegung stand die Kirche erhaben zwischen hohen Bäumen. Ihr gegenüber befand sich das Wirtshaus »Zum roten Krug«, dem sich ein großer Saal anschloss. Katharina fragte den Kutscher, ob dort auch manchmal getanzt wird. »Ei, ja. Ab und zu spielt schon die Musik zum Schwoofen.«
Obwohl Katharina gern tanzte, ahnte sie, in den nächsten Wochen gar keine Zeit für Vergnügungen zu haben.
Links neben der Kirche befand sich das Pfarrhaus, in dem auch die Pfarrersfamilie wohnte. Um die Kirche herum gruppierten sich kleinere Bauernhöfe, dessen Ackerflächen meist zwanzig bis dreißig Morgen betrugen. Die größeren Anwesen mit über einhundert Morgen befanden sich an den Dorfrändern. Das größte Gut jedoch gehörte dem Baron von Lübzow, der neben der Viehzucht und dem Ackerbau eine erfolgreiche Trakehnerzucht betrieb, wie ihr der Bauer erklärt hatte. Sogar wichtige Preise hatten die Pferde des Barons bereits gewonnen.
Zum Besitz des Gutsherren gehörten außerdem die Vorwerke Buchwäldchen, Eichgraben und Karlshof.
Mit Stolz, als wäre er selbst dabei gewesen, hatte der Kutscher der jungen Frau unterwegs erzählt, dass der Baron im ersten Weltkrieg als Oberst unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gedient hatte, der als pensionierter Offizier überraschend noch einmal aktiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen hatte.
Paul von Hindenburg hatte damals den Generalmajor Erich Ludendorff als Stabschef eingesetzt und einer der Stabsoffiziere war eben der Baron von Lübzow, der 1914 sogar an der Schlacht bei Tannenberg teilgenommen hatte, als die deutsche Armee die russischen Truppen nach einem Einfall in die deutsche Provinz zurückschlug.
Der Baron hatte sich damals während der Schlacht mit taktischem Geschick hervor getan.
Später besuchte Kaiser Wilhelm der II. die Familie auf ihrem Gut, zeichnete den Baron mit einem Orden aus und nahm vom Herrn Baron einen stattlichen Trakehner als Geschenk entgegen.
Der Bauer lenkte sein Fuhrwerk auf ein Gebäude zu, dass sich von den übrigen Häusern in der Straße unterschied. Es sah vornehmer aus und war hell geputzt. Unterhalb der Dachkante verzierte eine aus roten Backsteinen gemauerte Kante das Haus. Ebenso waren die Fenster eingerahmt.
Vor diesem Haus hielt der Bauer sein Gefährt und verkündete: »So, da weern wa. Kannst jlejch rejn zum Birjermejster jehen. Ich warte bei mejnen Pferdchen.«
Der Bauer war inzwischen zum allgemein gebräuchlicheren »Du« übergegangen und Katharina hatte nichts dagegen.
Die junge Frau stieg von ihrem Sitz auf dem Kutschbock, richtete ihre Kleidung und ging mit festem Schritt die Treppe zum Eingang des Hauses empor.
Der Bürgermeister erwartete die junge Frau bereits und begrüßte sie sehr freundlich. Das Büro war ohne Pomp eingerichtet, nur der Schreibtisch war aus Eiche und mit Schnitzereien verziert.
Das Gespräch mit dem Mann war für Katharina sehr angenehm und die Formalitäten unkompliziert.
Der Bürgermeister freute sich, eine zusätzliche Lehrkraft im Dorf begrüßen zu können, denn der einzige verbliebene Lehrer war mit den vielen Schülern schlichtweg überfordert.
Die Sekretärin des Bürgermeisters schien über den hübschen Neuzuzug nicht sonderlich erfreut zu sein, dafür aber umso mehr der verlängerte Arm des Ortsbauernführers, ehemaliger Gutsknecht und jetziger SA-Mann Anton Jakubasch, der sich von der SA anwerben ließ und nun deren braune Uniform trug. Er »residierte« visasvis des Bürgermeisterbüros, verfolgte bei geöffneter Tür alle Gespräche mit und taxierte nun die neue Lehrkraft mit lüsternen Augen.
Bis vor zwei Jahren war er noch Knecht beim Baron von Lützow gewesen, doch seit seinem Beitritt zur NSDAP hatte er rasch Karriere gemacht. Nun übte er eine Kontrollfunktion im Dorf aus, doch die Bauern sagten von ihm, dass er nur ein Zuträger für den Ortsbauernführer sei.
Katharinas Unterkunft hatte der Bürgermeister bei der Witwe Schimkus vorgesehen, der ein wenig Zerstreuung gut tun würde. Ihr Mann war vor einem Jahr an der Ostfront gefallen und Wolfgang, der älteste Sohn kämpfte seit Ende 1941 in einer Einheit der 1. Infanteriedivision, die bei Oranienbaum am Finnischen Meerbusen, Teile der sowjetischen Front von ihrer Hauptmacht um Leningrad abschnitt, um in die Leningrader Blockade eingreifen zu können.
Er schrieb leider recht selten, aber Marie Schimkus ahnte, dass ihr Sohn nicht oft die Gelegenheit zum Schreiben haben würde und zu viele Gedanken an die Heimat würden ihn wohl traurig stimmen.
Georg, der jüngere Sohn der Witwe, bestritt derzeit seine Kampfjägerausbildung beim Kampfgeschwader 54 auf Sardinien auf einer Ju 88. Auch er schrieb nicht sehr oft, aber er war ein rechter Hallodri und nutzte seine freie Zeit wohl besser, als Briefe zu schreiben.
Seine Einheit wurde im Kampf gegen die britische 8. Armee bei El-Alamein eingesetzt und hatte außerdem den Auftrag, eine eventuelle Landung der Briten auf italienischem Festland zu verhindern.
Obwohl Katharina sehr erschöpft war, wollte sie gern noch die Schule sehen. Dieser Eifer gefiel dem Bürgermeister und er verwies sie an ihren Kollegen, Herrn Graudenz, der zwei Häuser neben der Schule wohnte.
Bauer