Johannes Sachslehner

"Rosen für den Mörder"


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Indizien dafür sind, wie schon Yitzhak Arad in seinem Buch Ghetto in Flames vermutet, die eher versteckten Treffpunkte und die Tatsache, dass Murer das Geld selbst eintreibt und offenbar keine weiteren deutschen Beamten zur Seite stehen hat. Dazu existiert eine interessante Zeugenaussage: Im Verfahren gegen Angehörige des Einsatzkommandos 3 berichtet 1971 eine Frau Frances Penny, geborene Papierbuch, die im Gestapogebäude gearbeitet und den Haushalt von SS-Oberscharführer Horst Schweinberger besorgt hat, dass sie im Gebäude „mehrere Kisten, voll mit Gold, Schmuck und dergleichen,“ gesehen habe (zitiert nach Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik). Reichskommissar Hinrich Lohse sanktioniert jedenfalls am 21. August nachträglich alle Aktionen zur Beraubung der Juden, bereits zuvor, am 9. August, teilt Bronius Draugelis, der Kreischef für Vilnius-Stadt und Vilnius-Land, den Polizeiführern mit, dass die eingetriebenen Gelder auf eine staatliche Bank eingezahlt werden müssen, der jeweilige Gebietskommissar verfüge über die beschlagnahmten Gold- und Wertsachen. Lässt Lucian Wysocki diese Kisten in das Gebietskommissariat bringen oder „verwaltet“ er sie selbst? In diesem Fall hat er dazu nur wenig Zeit, denn am 11. August 1941 wird er von Himmler zum SS- und Polizei-Standortführer für den Generalbezirk Litauen mit Dienstort Kowno ernannt und muss Wilna verlassen.

      Bestärkt durch den Erlass des Reichskommissariats, versucht Murer der jüdischen Bevölkerung Wilnas auch noch die letzten Wertsachen abzupressen. Am 22. August weist er Petras Buragas, den Nachfolger von Jonas Čiuberkis als litauischem „Beauftragten für Judenangelegenheiten“, an, dass der Judenrat innerhalb einer Woche alle Bargeld-, Gold- und Silberbestände „anmelden“ müsse, das gelte auch für alle in jüdischem Besitz befindlichen Warenlager (LCVA, R-643-3-4152, Bl. 128). Am 3. September 1941 verfügt das Gebietskommissariat schließlich, dass Bargeld, Wertpapiere, Aktien, Schuldverschreibungen, Wechsel, Sparbücher, Wertsachen und diverse Warenvorräte in den litauischen Polizeirevieren abgegeben werden müssen. Behalten dürfen die Juden einen Betrag bis maximal 300 Rubel. Nach bewährtem Muster werden die Leiter der einzelnen Polizeireviere in die Pflicht genommen: Sie sind für die „erfolgreiche“ Durchführung der Aktion verantwortlich. All jenen, die Informationen über Judenvermögen verschweigen und dem Gebietskommissariat vorenthalten, droht mit Bekanntmachung vom 23. Oktober 1941 die Todesstrafe.

      Jakob Wygodzki (1856–1941), seit zwanzig Jahren die Stimme der Juden Wilnas, wird am 24. August verhaftet. Obwohl er schwer krank ist, bringt man ihn ins Gefängnis, ein Versuch, über die litauische Zivilverwaltung seine Befreiung zu erreichen, scheitert, auch sein junger Freund Mendel Balberyszski kann nichts für ihn tun. Der 85-Jährige stirbt nach wenigen Tagen Haft im Lukiškes-Gefängnis – nach anderer Darstellung wird er ermordet. Sein Tod ist ein schwerer Schlag für den Judenrat: Mit Jakob Wygodzki, ehemals Minister für jüdische Angelegenheiten der Republik Litauen, verliert man die herausragende Persönlichkeit dieser Tage, einen Mann, der durch seine Integrität und Haltung in der Auseinandersetzung mit den Nazis zum Vorbild geworden ist.

      Vor Gericht in Graz 1963 wird Murer die von ihm mit so viel Elan betriebene Beraubung der jüdischen Bevölkerung beharrlich leugnen. 15 Jahr zuvor, in den Verhören durch den sowjetischen Untersuchungsrichter in Mai und Juni 1948 in Wilna, ist seine Erinnerung noch bedeutend besser – er räumt im Verhör ein, dass er an der Eintreibung der „Kontribution“, die man über die Juden verhängt habe, beteiligt gewesen sei: „Die Wilnaer Juden mussten eine Million Rubel oder Reichsmark zahlen, ich kann mich an die Währung nicht mehr erinnern. Sie hatten die Summe in drei Raten innerhalb von ein, zwei Tagen zu zahlen.“ Das Geld wäre als adäquates Angebot für eine Garantie gedacht gewesen: Die Juden sollten dadurch davon abgehalten werden, etwas gegen die Deutschen zu unternehmen. Die Idee zur Kontribution sei allerdings von SS- und Polizeiführer Lucian Wysocki gekommen, er habe vorgeschlagen, die erzielte Summe in die Kasse des Gebietskommissariats einzuzahlen. Zum vorgegebenen Zeitpunkt hätten die Juden „500 bis 600.000 Rubel und 15 kg Gold “ abgeliefert, aber das sei zu wenig gewesen. Auf Weisung des Gebietskommissars habe er jedoch diesen Betrag akzeptiert und in die Kasse des Hauses eingezahlt.

      Die Namen von SS-Standartenführer Karl Jäger, Gebietskommissar Hans Christian Hingst und seinem Stabsleiter Franz Murer sind in der jüdischen Bevölkerung Wilnas inzwischen bekannt, auch in der Familie des Buchhalters Mosche Anolik in der Pohulankastraße werden sie aufmerksam registriert. Vater Mosche ist dafür, die „Befehle“ der Deutschen zu befolgen, da man ohnehin keine Wahl habe und ihnen keinen Vorwand geben dürfe, gegen die Juden vorzugehen. Die beiden Söhne sind kämpferischer – so erinnert sich der 15-jährige Benjamin Anolik, genannt „Benja“, später an ein Gespräch mit seinem älteren Bruder Nissan, in der Familie kurz „Nisja“ gerufen: „‚Wir werden uns diese Namen merken‘, sagte Nisja, ‚wir werden später mit ihnen abrechnen!‘ – ‚Hoffentlich‘, sagte ich, ‚hoffentlich werden wir das erleben!‘ – ‚Siehst du, Benja, manche Namen sind kein Zufall: Ein ‚Jäger‘ jagt, und ‚Murer‘ hört sich wie Mörder an!‘“ (Zitiert nach Benjamin Anolik, Lauf zum Tor mein Sohn.)

      Die Große Provokation

      In seiner autobiografischen Skizze erzählt Franz Murer die Geschichte so: Eines Tages, an das genaue Datum könne er sich nicht mehr erinnern, habe sein Chef Hingst ein Schreiben vom vorgesetzten Generalkommissariat in Kaunas bekommen, in dem ihm von Adrian von Renteln mitgeteilt worden sei, dass die Gestapo bereits Beschwerde über ihn geführt habe. Der Grund dafür: Da der Gebietskommissar noch keinen Platz zur Verfügung gestellt habe, könne die Gestapo die jüdische Bevölkerung nicht wie in den Richtlinien vorgesehen in einem Ghetto zusammenfassen. Die Rüge aus Kaunas habe hektische Aktivitäten ausgelöst: Hingst gibt seinem Adjutanten Murer Befehl, das Ghetto zu „organisieren“, und lädt Bürgermeister Dabulevičius zu sich ein, um die Frage der Ortswahl für das Ghetto zu besprechen, Murer bekommt dann den Auftrag, „mit den Herren der litauischen Stadtverwaltung Wilna abzufahren, mit dem Zweck festzustellen, welche Plätze oder Stadtviertel sich für die Bildung eines Ghettos eignen würden. Wir kamen auch zu einem Stadtviertel, wo sich eine Straße noch Ghettostraße nannte. Dort war einst unter der Herrschaft der Russen ein Ghetto.“ Hingst, so Murer, sei dafür gewesen, das Ghetto in der Innenstadt zu errichten, so erreiche man, dass die Gestapo „nicht machen könne, was sie wolle“, und setzt sich damit auch durch. Eine weitere Sitzung wird angesetzt, dieses Mal eine „große Runde“ mit Gestapo, Polizei und der litauischen Stadtverwaltung, an der Murer, wie er später behauptet, nicht teilnimmt – sehr unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass er das betreffende Stadtviertel in der Altstadt Wilnas bereits inspiziert hat und damit rechnen muss, dass Hingst ihn auch weiterhin für die Betreuung des Ghettos heranziehen wird. Vor dem sowjetischen Untersuchungsrichter wird er denn 1948 auch behaupten: „In Ausführung des Befehls habe ich zusammen mit dem Wilnaer Bürgermeister Dabulevičius den Platz für das Ghetto ausgewählt.“ (Documents Accuse, Dokument Nr. 94 – Übersetzung J. S.)

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      Sie organisieren die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung Wilnas: Gebietskommissar Hans Christian Hingst und sein Adjutant Franz Murer.

      Die für die beiden Ghettos vorgesehenen Straßenzüge beiderseits der Deutschen Straße stehen fest, doch nun gibt es ein Problem: Es gilt Platz zu schaffen für die 45.000 Menschen, die hierher umziehen sollen. Hingst und Murer „arbeiten“ an der Lösung: Polen und Litauern muss man neue Wohnungen zuweisen, was die jüdischen Bewohner des Viertels betrifft, so käme eine Art Großrazzia gerade recht, doch wie rechtfertigt man diese? Da es keinen Vorwand gibt, muss einer nach bewährtem Nazi-Muster geschaffen werden: Am Sonntag, dem 31. August 1941, um zwei Uhr nachmittags, betreten zwei in Zivil gekleidete litauische „Partisanen“ eine Wohnung im Haus an der Ecke Stekljannajastraße/Bolschajastraße. Vom Fenster dieser Wohnung, die keinem Juden, sondern einem Christen (!) gehört, hat man beste Sicht auf den Eingang des Pan-Kinos, vor dem zahlreiche deutsche Soldaten auf die nächste Filmvorführung warten. Die beiden litauischen Kollaborateure feuern aus dem Fenster zwei Schüsse ab, die niemanden verletzen, dann stürzen sie auf die Straße und rufen, dass gerade zwei im Haus lebende Juden auf die Deutschen geschossen hätten – das Signal zur Lynchjustiz: Gemeinsam mit einigen deutschen Soldaten dringen die beiden Litauer in eine jüdische Wohnung des Hauses ein, zerren zwei Juden, die nicht wissen, wie ihnen