(LAF) – und „Partisanen“ ist nun geweckt, es beginnt ein Pogrom, das im Bereich des vorgesehenen Ghettogeländes die Nacht über bis Montagmittag andauert. Mit Kolbenschlägen prügeln die Litauer die Juden erbarmungslos aus ihren Wohnungen hinaus auf die Straße, Tausende müssen überstürzt ihr Heim verlassen, haben kaum Zeit, etwas einzupacken. Die 20-jährige Jüdin Rachel Margolis, die bei einer christlichen Familie lebt und sich später der jüdischen Widerstandsbewegung F. P. O. anschließen wird, beobachtet das Geschehen: „Aus dem Fenster einer Wohnung in der Trockastraße sah ich in der Nacht eine endlose Kolonne von Menschen – Kinder, Greise, Frauen mit Babys auf dem Arm, mit Bündeln, Töpfen, Eimern, Kissen – eine schreckliche graue Masse, die kein Ende nahm. Niemand wusste zunächst, wohin man die Menschen trieb und was mit ihnen geschehen sollte.“ (Zitiert nach Rachel Margolis und Jim Tobias, Die geheimen Notizen des K. Sakowicz.)
Tausende müssen überstürzt ihr Heim verlassen, niemand weiß, wohin es geht …
Unter den Beobachtern dieser „Aktion“ ist auch der jüdische Journalist Grigorij Schur, geboren 1888 in Wilna: „Alle wurden hinausgetrieben – die Alten und die Kranken, die Kinder und die Frauen mit Säuglingen auf den Armen. Vielen wurde es nicht gestattet, sich anzuziehen; nur in ihrer Unterwäsche standen sie auf der Straße. Die Wohnungen blieben offen für alle, die sie zu plündern wünschten.“ (Zitiert nach Grigorij Schur, Die Juden von Wilna.)
Das Gebietskommissariat zeigt sich – wenig überraschend – gut vorbereitet: Noch am 31. August wird eine Ausgangssperre von 15 Uhr nachmittags bis 10 Uhr vormittags gegen „alle Juden beiderlei Geschlechts“ verhängt, nur jene Juden dürfen ihre Wohnung verlassen, die ausdrücklich zu einem Arbeitseinsatz befohlen sind. Und ein Plakat wird in Druck gegeben, eine „Bekanntmachung“, in der es mit zynischer Verlogenheit heißt: „Am gestrigen Sonntag nachmittag wurde in der Stadt Wilna aus dem Hinterhalt auf deutsche Soldaten geschossen. Zwei der feigen Banditen konnten festgestellt werden. Es waren Juden. Die Täter haben ihr Leben verwirkt. Sie wurden sofort erschossen. Zur Verhütung derartiger feindseliger Akte sind bereits weitere schärfste Gegenmaßnahmen getroffen. Die Vergeltung trifft die Gesamtheit der Juden.“
Die „Vergeltung“ heißt Mord: Die zusammengetriebenen Juden werden zum Teil ins berüchtigte Lukiškes-Gefängnis gebracht, zum Teil müssen sie in langer Kolonne direkt den Weg nach Ponary antreten. Noch weiß niemand, was sie hier erwartet. Viele glauben, dass sie „umgesiedelt“ und in ein Arbeitslager gebracht werden … Opfer der „Großen Provokation“ werden auch zehn Mitglieder des ersten Judenrates, unter ihnen auch Shaul Pietuchowski, mit dem Murer noch vor wenigen Wochen über die „Kontribution“ verhandelt hat. Am 2. September erhält der Judenrat vom litauischen Mordkommando Ypatingas Burys noch Befehl, in der Straszunstraße Fuhrwerke bereitzustellen, wenig später werden die zehn Männer von EK-3-Verbindungsmann Horst Schweinberger festgenommen, nach Ponary gebracht und erschossen. Die Büros des Judenrats werden geschlossen und versiegelt, in der jüdischen Einwohnerschaft Wilnas breiten sich Panik und eine „unerträgliche Hilflosigkeit“ (Christoph Dieckmann) aus. Man schickt eine Delegation zu Bürgermeister Dabulevičius, doch der schiebt alles auf die deutschen Besatzer, sie trügen die Verantwortung, er könne nichts tun. Ihrer gewohnten Führung beraubt, taumeln die Juden Wilnas der Ghettoisierung entgegen.
Der Ort des Todes: Ponary
Kazimierz Sakowicz, Jahrgang 1894, ist Journalist und Herausgeber der Wilnaer Wochenzeitung Przegląd Gospodarczy („Wirtschaftsrundschau“). Zusammen mit seiner Frau Maria bewohnt er ein kleines Haus in der Gemeinde Ponary, etwa zehn Kilometer von Wilna entfernt. Neben dem Schreiben widmet er sich der Arbeit auf den Feldern, die zum Haus gehören. Das Dorf Ponary ist umgeben von dichten Wäldern, für die Bewohner von Wilna ist die Gegend vor dem Krieg ein beliebtes Ausflugsziel gewesen.
Als Kazimierz Sakowicz am 11. Juli 1941 Schüsse hört, die vom Wald herkommen, glaubt er zunächst an militärische Übungen. Es ist vier Uhr nachmittags, die Schüsse dauern eine, dann sogar zwei Stunden an. Auf der Grodzienka, der Landstraße, die an Ponary vorbei Richtung Grodno führt, erfährt er dann von Bauern aus der Umgebung die Wahrheit: Man hat Juden in den Wald getrieben, etwa 200 hat man gesehen und nun werden sie erschossen.
Von einem Versteck auf dem Dachboden seines Hauses aus verfolgt er am nächsten Tag die Hinrichtungen – wieder wird eine große Gruppe Juden, etwa 300 Menschen, in den Wald geführt, jeweils 10 Personen werden auf einmal erschossen. Sakowicz notiert seine Beobachtungen auf herausgerissenen Seiten von Schulheften und Kalenderblättern, Tag für Tag dokumentiert er von nun an die Massenmorde im Wald von Ponary. Da niemand von diesen Aufzeichnungen erfahren darf, steckt er die beschriebenen Zettel in leere Limonadenflaschen, stöpselt diese zu und vergräbt sie in seinem Garten. Der letzte Eintrag, den Sakowicz in seinem „Tagebuch“ macht, stammt vom 6. November 1943; der Journalist befürchtet zu diesem Zeitpunkt schon, dass ihn die Szaulisi, die litauischen Kollaborateure der Nazis, im Visier haben würden. Sakowicz, der sich der polnischen Untergrundarmee AK – Armia Krajowa – anschließt, wird am 5. Juli 1944 auf einem Waldweg von unbekannten litauischen Tätern angeschossen und erliegt am 15. Juli 1944 seinen Verletzungen. Seine Aufzeichnungen werden ausgegraben, jüdische Historiker übergeben sie dem Jüdischen Museum Wilna, von dort gelangen sie ins Staatliche Zentralarchiv Litauen.
Der 2. September 1941 ist ein kalter, regnerischer Tag. Kazimierz Sakowicz hat von den Szaulisi bereits eine Woche zuvor erfahren, dass in der „kommenden Woche“ in Ponary so viele Menschen erschossen werden würden wie zuvor den ganzen August über nicht – nun muss er erkennen, dass die Mörder recht hatten: Bereits um halb acht am Morgen erblickt er auf der Landstraße eine „auseinandergezogene Menschenschlange“, „mit Sicherheit“ 2 km lang. Vom Dachboden seines Hauses aus beobachtet er dann den Massenmord: „Wie es sich später erwies, waren es 4000 Personen (…) lauter Frauen, viele Babys. Als sie (…) in den Weg zum Wald einbogen, begriffen sie, was sie erwartete und schrieen: ‚Rettet uns’. Säuglinge in Wiegen, auf dem Arm usw.
Die Leute wurden geschlagen, bevor sie erschossen wurden (…). Die Männer wurden separat erschossen, die Frauen mussten sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Viele Sachen, Pelze und Wertgegenstände (hatten die Juden mitgenommen), da sie dachten, dass sie ins ‚Ghetto‘ gehen würden. (…) Bei den Hinrichtungen ging man so vor, dass sich die (zur Erschießung vorgesehene) Gruppe auf die Körper der vorher Getöteten stellen musste. Sie (die Opfer) gingen und gingen (buchstäblich) über die Leichen! Die Gräber wurden gleich am nächsten Tag zugeschüttet.“ (Zitiert nach Rachel Margolis und Jim Tobias, Die geheimen Notizen des K. Sakowicz.)
Die Massenerschießungen im Wald von Ponary (litauisch: Paneriai) beginnen im Juli 1941. Von den Sowjets ausgehobene Gruben für ein Benzinlager werden zu Massengräbern – deutsche und litauische Mordkommandos töten hier etwa 100.000 Menschen.
Was die Beobachtung „lauter Frauen, viele Babys“ betrifft, so wird Sakowicz durch den sogenannten „Jäger-Bericht“, die „Gesamtaufstellung der im Bereich des EK 3 bis zum 1. Dez. 1941 durchgeführten Exekutionen“, von SS-Standartenführer Karl Jäger (1888–1959) bestätigt – Jäger, ein penibler Buchhalter der Mordaktionen seines Einsatzkommandos, vermerkt für den 2. September im Bereich Wilna-Stadt „864 Juden, 2019 Jüdinnen, 817 Judenkinder“, exekutiert von einem „Teilkommando“ des EK 3, und vergisst nicht zu erwähnen, dass es sich um eine „Sonderaktion“ gehandelt habe, da „von Juden auf deutsche Soldaten geschossen wurde“.
Wie Sakowicz berichtet, läuft der Handel mit Damenkleidung am 3. und 4. September bei den Bauern aus der Umgebung „auf Hochtouren“, auch aus Wilna kommen Litauerinnen, um sich vor allem warme Sachen zu holen. Von manchen Bekannten erfährt er noch Einzelheiten, so habe man im Wald ein Kind gefunden, das bei einer Grube im Sand spielte – man habe es in die Grube geworfen und erschossen. In einem anderen Fall habe man ein Kleinkind von der Mutterbrust weggerissen und erschossen. Die Szaulisi feiern am 2. und 3. September mit einem Saufgelage – das