Johannes Sachslehner

1918


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doch keinen, der nicht wußte, daß er als einsamer Mensch mit einsamem Leben und einsamem Tode hier herausgestellt worden war in eine übermächtige Sinnlosigkeit, in eine Sinnlosigkeit, die sie nicht begreifen oder höchstens als Scheißkrieg bezeichnen konnten.

       Hermann Broch, 1918 Huguenau oder die Sachlichkeit

      Das waren Tage, wo man schlafen ging, um für einige Stunden Vergessen zu finden, sich loszulösen von einem harten Geschehen.

       Friedrich Funder, Vom Gestern ins Heute

      Österreich war damals am Marsch. (Phonetisch zu lesen.)

       Anton Kuh, Großösterreich stirbt

       Mravni kráso 28. řijna zustan s námi, zustan s námi na veky!

      „Moralische Schönheit des 28. Oktobers, bleib mit uns in alle Ewigkeit!“

       Rudolf Medek (1890 – 1940),

       tschechischer General und Schriftsteller

      Die einen trauerten um ein versunkenes Reich, die anderen träumten vom Aufgehen in einem neuen Reich aller Deutschen, und in der Mitte befand sich nichts.

       Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten

      Ach, nicht im Willen und im Denken lag das Geheimnis der Geschichte, sondern im abgefeimten Zusammenspiel des Lebens selbst, das ähnlich wie das menschliche Bewußtsein nichts als eine gehetzte, fiebrische Bilderflucht war, deren Gesetzmäßigkeit Gott allein enträtseln konnte.

       Franz Werfel, Barbara oder Die Frömmigkeit

      Auf dieser Erde schritt ich

       und spürte meine Glieder nicht,

       so leicht war mir.

       Egon Schiele

      Man schreibt den 28. Oktober 1918: 24 dramatische Stunden, in denen der Untergang Österreich-Ungarns unumstößliche Gewissheit wird. Ein Tag, an dem der Wahnsinn einer „großen Zeit“ seinen abschließenden Höhepunkt erreicht. Während am Monte Asolone und am Monte Pertica, am Piave und am Monticano sich die letzten getreuen k. u. k. Regimenter verzweifelt der Offensive der Alliierten entgegenstemmen, im mörderischen Granathagel der feindlichen Artillerie verbluten, wird in Wien die neue Regierung eines Staates angelobt, der eigentlich gar nicht mehr existiert. Soldaten aus Böhmen und Mähren, aus Polen und Ungarn kämpfen und sterben für ein Vaterland, das nicht mehr ihres ist, für einen Kaiser, der seltsam kraftlos zusieht, wie die Dinge ihren verhängnisvollen Lauf nehmen. Während er, verstrickt in Illusionen von Gottesgnadentum und Treue zur Dynastie, noch immer auf den Abschluss eines Friedens hofft, der den Fortbestand der Monarchie ermöglicht, entgleitet ihm Schritt für Schritt die Macht. Ohnmächtig müssen er und seine Minister zusehen, wie in Prag und Krakau, in Budapest und Agram der Doppeladler in den Staub getreten, die Apokalypse des Vielvölkerstaats Wirklichkeit wird. Es ist ein denkwürdiger Feiertag für Jahrhunderte hindurch von Habsburg unterdrückte Nationen, traumatisches Erleben hingegen für jene, die das von schwarz-gelben Grenzbalken umschlossene Land als ihre Heimat ansehen.

      Es sind 24 chaotische Stunden, in denen Heldenmut und feiger Verrat, Zaudern und entschlossenes Handeln, Gleichgültigkeit und selbstlose Hilfsbereitschaft aufeinander treffen und miteinander in Wechselwirkung treten, 24 lange Stunden des Hungers und der Verzweiflung, 24 dunkle Stunden, in den Tausende sterben, hingestreckt vom tödlichen Virus der Spanischen Grippe. 24 gespenstische Stunden, in denen das Gestern zu Ende geht und in ersten hellen Umrissen ein Morgen heraufdämmert: von Schrecken, aber auch von Hoffnung erfülltes Niemandsland zwischen den Zeiten, das die Konflikte der Zukunft bereits erahnen lässt. Tummelplatz für die Männer, die den Nachkrieg und die Republik bestimmen werden, die in gewaltigen Visionen schwelgen, weit reichende revolutionäre Konzepte bereithalten, gewagte Experimente angedacht haben. Ideologen und Parteidoktrinäre, Idealisten und Querdenker, Fantasten und selbst ernannte Propheten formulieren ihre Parolen für die neue Zeit. Und in einem Lazarett im pommerschen Pasewalk beschließt ein durch Giftgas zeitweilig erblindeter Gefreiter namens Adolf Hitler Politiker zu werden …

       Johannes Sachslehner

      

       Nachschub für die Fronttruppen am Monte Asolone: kurze Rast auf dem schmalen Saumweg durch die Cesillaschlucht.

      Felsenfestung Monte Asolone im Monte-Grappa-Massiv, eine Schlüsselstellung der etwa 140 km langen Südwestfront, die von den Bergriesen Südtirols bis zur Mündung des Piave reicht. Seit vier Tagen tobt hier, in einer trostlosen Stein- und Felswüste 1500 Meter über dem Meer, die Schlacht. Gehalten wird dieser Frontabschnitt, der sich weiter westlich durch das tief eingeschnittene Tal der Brenta bis zum Monte Alessi und zu den Linien des VI. Korps fortsetzt, im Osten die ebenso steile Schlucht des Valle Cesilla quert und unterhalb des Monte Pertica an die Stellungen des I. Korps grenzt, vom XXVI. k. u. k. Armeekorps, kommandiert von General der Infanterie Ernst von Horsetzky. Die grauenvolle Zerrissenheit dieser wasserlosen Landschaft soll, so erzählt man sich, bereits Dante Alighieri vor Augen gehabt haben, als er in seiner Divina Commedia den Eingang zum Inferno beschrieb: eine kahle, lebensfeindliche, schwer zugängliche Bergwelt, erreichbar nur über einen Fußsteig, der vom kleinen Dorf Vannini, gelegen am Zusammenfluss von Brenta und Cismon, hier heraufführt. Dreizehnhundert Höhenmeter müssen die Nachschubkolonnen auf diesem bewältigen, auf Schritt und Tritt sind Pferde und Träger dem schweren Feuer des Feindes ausgesetzt, der von seinen höher gelegenen Positionen im Gipfelbereich des Monte Grappa den gesamten Weg einsehen kann und dies gnadenlos nützt – es gibt kaum eine Möglichkeit vom Weg abzuweichen. Am Osthang der engen Cesillaschlucht, die sich vom Hauptgipfel des Gebirgszugs, dem Monte Grappa (1775 m), herabzieht, hat man in halber Höhe einen Saumweg in den Fels gehauen, der zum östlichen Flügel der Stellung führt; auch hier wütet täglich die italienische Artillerie. Die Transporte aus dem Tal müssen dennoch Tag für Tag weitergehen: Allein der Schießbedarf des Korps für einen einzigen Kampftag beträgt 2.200 Tonnen, dazu kommen Lebensmittel, Heiz-, Bau- und Befestigungsmittel. Unter verzweifelter Anstrengung der Seilbahnabteilungen errichtete Seilbahnverbindungen sind im Geschosshagel immer wieder zerfetzt worden, ein Druckpumpenwerk im Brentatal liefert zwar Wasser, aber nie in ausreichendem Maße.

      Geradezu komfortabel und hoch technisiert dagegen die Stellungen der Italiener am Monte Grappa, dem höchsten Gipfel im Süden des Massivs, dessen Flanken nach allen Seiten hin steil abfallen und so gut zu verteidigen sind: unterirdische Unterkünfte, eine beschusssichere Wasserleitung, ein Elektrizitätswerk, ein Lazarett und eine gut ausgebaute Zufahrtsstraße, die auch für Lastkraftwagen befahrbar ist. Luigi Cadorna, Oberbefehlshaber des italienischen Heeres bis zur Niederlage von Karfreit im Oktober 1917, hat die Grappa-Position bereits 1916 zur strategisch perfekt gelegenen Auffangstellung ausbauen lassen – eine Vorsichtsmaßnahme, die sich nun, nach dem Zusammenbruch der Isonzo-Front, mehr als bezahlt macht: Der Grappa-Gipfel, die letzte Barriere vor der venetianischen Tiefebene, wird für die k. u. k. Armee zur unüberwindlichen Hürde. Im November 1917 kommt hier der österreichische Vorstoß zum Stehen, der Abwehrsieg am Monte Grappa rettet die Italiener vor dem Aufrollen der gesamten Front am Piave.

      Es ist eine empfindlich kühle Herbstnacht, über dem von Granaten zerwühlten Felsenmeer liegt der süßliche Geruch des Todes: Tausende sind hier in den letzten Tagen gestorben – von Kugeln und Splittern durchsiebt. Am Morgen des 24. Oktobers waren elf Divisionen der 4. italienischen Armee von General Gaetano Giardino an der Grappa-Front zum entscheidenden Angriff angetreten, am 25. stand der Feind dreimal am Monte Asolone, dreimal konnte der Gipfel im Gegenangriff wieder zurückerobert werden. Für die Überlebenden des südmährischen Infanterieregiments Nr. 99 ist es jedoch endlich ruhig geworden, in einer Reservestellung haben die abgekämpften Soldaten Gelegenheit etwas Schlaf zu finden. Leutnant Otto Gallian verbringt dennoch eine äußerst unruhige Nacht. Immer wieder