zum Vortrag geladen – und bei diesem Gespräch gab es die erste böse Überraschung: Er erfuhr, dass mit dem Hofzug auch Graf Mihály Károlyi nach Wien gekommen sei, der Mann, der als Kandidat der radikalen nationalen Kräfte neuer Ministerpräsident in Ungarn werden möchte. Der Generaloberst ist entsetzt, beschwört den Kaiser, Károlyi nicht zum Chef des ungarischen Kabinetts zu ernennen, er sei das Unglück der Monarchie – noch klingen ihm die Worte des Magnaten vom 16. Oktober im Ohr: Wenn wir nicht stürmisch die Gemeinsamkeit mit Österreich aufheben, so werden wir nicht nur den Krieg, sondern auch den Frieden verloren haben …
Beeindruckt vom Widerstand Arzens, der in Ungarn am liebsten eine Militärdiktatur errichten und Károlyi ins Gefängnis werfen lassen möchte, lässt Karl daraufhin den Grafen nicht nach Schönbrunn kommen und in seinem Zimmer im Hotel Bristol „verhungern“, auch die geplanten Gespräche von Károlyi mit Lammasch und Andrássy finden nicht statt; gegen Mittag kann Karl seinem Generalstabschef mitteilen, dass Károlyi noch am Nachmittag wieder abreisen werde. Als Ersatz für den radikalen Grafen fasst Karl den Honvédminister Baron Szurmay ins Auge und fragt bei diesem telefonisch an, ob er sich zutraue, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen – Szurmay lehnt jedoch sofort entschieden ab; die Krise in Budapest ist damit prolongiert. Erst im Exil werden Karl und Zita erfahren, dass die Mitnahme Károlyis im Hofzug auch ihre gute Seite hatte: Radikale ungarische Eisenbahner beabsichtigten den Zug mit dem Kaiserpaar zu stoppen, verzichteten aber auf diese Aktion, als sie von der Anwesenheit des Grafen im Zug erfuhren …
Am Nachmittag hatte dann Feldmarschall Erzherzog Joseph von der Front in Italien kommend in Wien kurz Station gemacht. Kaiser Karl hatte dies zu einem Gespräch mit dem ehemaligen Kommandanten der Heeresgruppe Tirol genutzt und Eindrücke gewonnen, die ihn alles andere als optimistisch stimmten: Auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden bei Asiago hatten ungarische Truppen, die 27. und 38. Honvéddivision, gemeutert, weitere Meutereien würden nur mehr eine Frage der Zeit sein. Der Abschluss eines Waffenstillstandes, so Erzherzog Joseph, müsse daher sofort ins Auge gefasst werden. Karl und auch Arz stimmen dieser Ansicht zu; der Kaiser will zunächst aber eine Lösung für das ungarische Problem finden und greift nun eine Idee des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Dr. Sándor Wekerle auf: Er ernennt den 46-jährigen Erzherzog Joseph, den ältesten Sohn von Erzherzog Joseph Karl Ludwig, zum homo regius, zum „Stellvertreter des Königs“, der als solcher zwischen den rivalisierenden Parteien vermitteln solle. Erzherzog Joseph erklärt sich mit dieser ehrenvollen Aufgabe einverstanden, erbittet sich jedoch zur Unterstützung eine zuverlässige Division, vor allem ein Regiment, das ihm Treue geschworen habe. Der Kaiser sagt zu, man kommt überein, dass diese Einheiten so rasch wie möglich nach Budapest verlegt werden sollen.
Erzherzog Joseph hatte sich daraufhin sofort zum Ostbahnhof bringen lassen; um 14 Uhr 30 rollte der Schnellzug nach Budapest aus der Station. Am Ende des Zugs war der Salonwagen Erzherzog Josephs angehängt worden; unter den Fahrgästen auch – Graf Mihály Károlyi, der am Vormittag vergeblich darauf gewartet hatte, beim Kaiser einen Gesprächstermin zu erhalten. Angeblich, so berichtete später etwa Prinz Ludwig Windisch-Graetz, Sektionschef im Ministerium des Äußeren, hätte Karl ihn mit Andrássy vertrösten wollen, auf ein Treffen mit seinem Landsmann und Schwiegervater im Ministerium soll wiederum der höchst aufgebrachte Károlyi keinen Wert gelegt haben – die Abneigung der beiden gräflichen Herren zueinander beruhte übrigens auf Gegenseitigkeit: Andrássy hatte sich seinerseits geweigert das Außenamt zu übernehmen, sollte sein Schwiegersohn Károlyi Ministerpräsident in Budapest werden. – „Wenn Sie Károlyi ernennen, können Sie mich genauso gut in ein Irrenhaus schicken, dort würde ich mehr am Platze sein!“, war angeblich Andrássys Kommentar auf Karls Vorschlag gewesen. Nun versucht Károlyi sein Glück beim Erzherzog, der ihn im Beisein seiner Frau, Erzherzogin Augusta, im luxuriös ausgestatteten Salonwagen empfängt. Aber auch hier kommt er nicht weiter, der Erzherzog, nicht unbedingt ein Freund des ehrgeizigen Adeligen im Dienste der Revolution, lässt sich zu keinerlei konkreten Erklärungen bewegen. Ich fühlte instinktiv, dass, während der König Hals über Kopf dem Untergang entgegeneilte, der Erzherzog bestrebt war, für sich zu sichern, was nur möglich war.
Erfreulicher für Károlyi, der überzeugt war, dass der Kaiser ihn hatte fallen lassen, sollte seine Ankunft in Budapest verlaufen: Tausende Menschen bereiteten ihm am Bahnhof einen stürmischen Empfang, hatte man doch fest damit gerechnet, dass er als Ministerpräsident zurückkehren würde, nun war man überzeugt, dass er Opfer eines schmutzigen Tricks des Königs geworden wäre. „Wenn du nicht als Ministerpräsident des Königs gekommen bist, so werden wir dich zum Ministerpräsidenten des Volkes ernennen!“, meinte sein Freund Martin Lovaszi bei der Begrüßung zu ihm. Gleichzeitig demonstrierte man gegen den Erzherzog – „Diktator Erzherzog!“, „Wir brauchen keinen Diktator!“ und „Nieder mit dem Diktator!“ lauteten die Parolen. Auch in Budapest hatte also Habsburg bereits schlechte Karten: Die Budapester Arbeiterschaft, aber auch große Teile der Mittelschichten und der Intelligenz wollen den Bruch mit der Dynastie. Sándor Wekerle, der noch immer die Geschäfte des Ministerpräsidenten führt, weigert sich jedoch noch immer das Standrecht zu verhängen, auch Erzherzog Joseph lehnt es ab, Truppen gegen die Bevölkerung einzusetzen. Polizei und zivile Behörden haben sich inzwischen dem „Nationalrat“ unterstellt, der sich am 25. Oktober konstituiert hat.
Kann Arz mit der Ernennung des etwas undurchsichtigen und ungarnfreundlichen Erzherzogs Joseph zum homo regius noch einigermaßen leben, so ist das mit der zweiten wichtigen Personalentscheidung des Kaisers an diesem trüben Sonntag schon weniger der Fall. Als Nachfolger von Max Hussarek ernennt Karl den 65-jährigen Völkerrechtsexperten Dr. Heinrich Lammasch zum neuen Ministerpräsidenten. Der ehemalige Berater von Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, geboren im niederösterreichischen Seitenstetten, ist überzeugter Pazifist, ein international angesehener Gelehrter, der jedoch Arz nicht den Eindruck eines Mannes machte, der den schwersten Stunden des Reichs gewachsen war. Karl aber möchte ein Zeichen setzen, einen Mann des Friedens an die Spitze jener Regierung stellen, die, wenn möglich, sein Reich und seinen Thron noch retten soll – Arz muss das akzeptieren, auch wenn er ahnt, dass von Lammasch und seinen Ministern für die Männer an der Front keine wirkliche Unterstützung mehr kommen wird. Auch vom neuen Außenminister nicht, dem Grafen Julius Andrássy, Sohn jenes ungarischen Diplomaten, der vor knapp vierzig Jahren das Bündnis der Monarchie mit dem Deutschen Reich geschlossen hat.
Was das Amt des Finanzministers betrifft, so hat sich der Kaiser für den aus Göding (Hodonín) in Mähren stammenden Verwaltungs- und Verfassungsrechtler Josef Redlich entschieden, der als deutschnationaler Abgeordneter am 21. Oktober auch Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung der Republik Deutschösterreich geworden und nunmehr in einer äußerst seltsamen Doppelrolle tätig ist: Als k. u. k. Finanzminister schwört er den Eid auf Karl und verpflichtet sich, für Wohl und Wehe des versinkenden Vielvölkerstaats zu wirken, als Verfassungsexperte im Vollzugsausschuss der Provisorischen Nationalversammlung ist er angehalten an den Rahmenbedingungen für den entstehenden deutschsprachigen „Nationalstaat“ zu arbeiten – Redlich wird dafür zwar von seinen eigenen Parteifreunden heftig kritisiert werden, er selbst aber sieht in diesem kunstvollen Spagat zwischen Monarchie und Republik keinen besonderen Grund zur Aufregung.
Tatsächlich tief getroffen wird Generalstabschef Arz von einer Nachricht, die aus Berlin eintrifft: Der Erste Generalquartiermeister Erich Ludendorff, Kopf der Obersten Heeresleitung des mit Österreich-Ungarn verbündeten Deutschen Reiches, der Mann, der zusammen mit Hindenburg gleichsam eine uneingeschränkte Militärdiktatur errichtet hatte und den „totalen“ Krieg führen wollte, ist entlassen worden – für Arz, der die militärischen Leistungen Ludendorffs immer sehr bewundert hat, eine Katastrophe: Es war kein Zweifel mehr, wir waren am Ende angelangt.
„Würdevolle Repräsentation“: Generalstabschef Arz von Straußenburg wird von der kaiserlichen Diplomatie nicht immer am Laufenden gehalten …
Die Schwierigkeiten mit den Ungarn in Budapest und bei den ungarländischen Truppen, die überraschende Nachricht von der Entlassung Ludendorffs, die neue Regierung unter Lammasch und die insgesamt ungünstige Entwicklung an der Piavefront – all das aber sollte noch nicht