Der fortdauernde Kampf zwischen seinem Sich-Verlassen auf wissenschaftliche Studien einerseits und der wachsenden Aufmerksamkeit für spirituelle Phänomene am Rand seines Bewusstseins andererseits erfüllten ihn. Zwar hatte er während seiner Studien seit 1736 einige Geistesblitze und er kam zu der Einsicht, dass sich dabei Wahrheiten verifizierten, doch diese neuen Erfahrungen waren sehr viel grundlegender als die vorherigen. Von nun an widmete er sich dem neuen Prozess mit der gleichen Intensität, wie er es bereits bei seinen wissenschaftlichen Studien getan hatte. Dabei benutzte er von ihm entwickelte Techniken intensiver Konzentration, Meditation, kontrolliertem Atmen, Trance und Traumanalyse.87
Im Mai 1744 und unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten beiden Teile von Regnum Animale in Holland hatte Swedenborg einen Traum, in dem ein Schiff vorkam. Dies deutete er dahingehend, dass er den dritten Teil von Regnum Animale in England veröffentlichen solle. Und so brach er nach London auf. In England setzte er den Abschluss des dritten Teils fort. Dabei erschien er allen, die ihn in jener Zeit umgaben, als ein internationaler Forscher, der ruhig seiner Arbeit nachging. Gleichwohl setzten sich seine inneren spirituellen Erfahrungen und Träume fort. Er verpflichtete sich selbst dazu, diesen Prozess durchzustehen, nicht aufzugeben oder diesem Veränderungs- bzw. Entwicklungsprozess zu entfliehen und stellte in diesem Zusammenhang sämtliche seiner Annahmen und Überlegungen infrage. An einem Punkt empfand er sogar, dass sein gesamtes Wissen über die Religion und alle dazu bereits gefassten Urteile weggeschwemmt worden seien, und er befand dies für gut, denn so, glaubte er, könne Gott ihn neu instruieren.88
Noch in London machte Swedenborg im April 1745 eine weitere machtvolle Erfahrung, die ihm Richtung und Inhalt seiner Lebensberufung besser erschloss. Dabei handelte es sich um seine erste offene und bewusste Begegnung mit der geistigen Welt und um erste Kontakte mit ihren Bewohnern. Er wurde gänzlich von ihrer Realität überzeugt. Wie Swedenborg schrieb, sei ihm der Herr erschienen und habe die Worte an ihn gerichtet,
„[…] dass Er mich ausgewählt habe, damit ich den Menschen den spirituellen Sinn der Schrift erkläre. Und Er selbst werde mir erklären, was ich dazu schreiben solle. Noch in derselben Nacht wurden mir daraufhin die Welt der Geister sowie Himmel und Hölle in voller Überzeugungskraft eröffnet. Ich erkannte dort viele Bekannte in allen möglichen Lebensumständen. Von diesem Tage an gab ich die weltliche Gelehrtheit auf und widmete meine Arbeit spirituellen Sachverhalten.”89
DIE THEOLOGISCHE PHASE
In der Tat gab Swedenborg das wissenschaftliche Arbeiten auf. Seine Schriften befassten sich von da an ausschließlich mit zwei Themen: dem tieferen Verständnis der Bibel und seinen eigenen spirituellen Erfahrungen. Beide Themen sind in der großen Mehrheit seiner übrigen Schriften vertreten. Er begann unmittelbar mit ausgedehnten Studien der Bibel und erstellte im Laufe von drei Jahren einen umfassenden ‚Bibel-Index’. Nebenbei führte er über 20 Jahre lang ein ‚spirituelles Tagebuch’, eine getreue Aufzeichnung seiner Erfahrungen mit der anderen Welt. Diese sollten eine große Auswirkung auf sein Leben und die Interpretation der Bibel haben. Sowohl der Index zur Bibel als auch das spirituelle Tagebuch bildeten die Grundlage für seine folgenden Werke und die sich darin entwickelnde Theologie. Manche Historiker sind in diesem Zusammenhang der Meinung, dass an diesem Punkt der Mann des religiösen Glaubens und der Empiriker begannen, Hand in Hand zu arbeiten.90
Würde man Swedenborgs Leben in drei Phasen einteilen, dann bezeichnete dies die dritte Phase. Die erste Phase umfasst seine Ausbildung zum und seine Arbeit als Ingenieur, in der zweiten Phase war er der Verwalter, Staatsmann, Philosoph und Wissenschaftler (insbesondere Anatom); die letzte Phase bestünde schließlich aus den letzten 27 Jahren seines Lebens, in denen er sich der Wahrheitssuche mithilfe des Bibelstudiums widmete. Um zu neuen Einsichten zu gelangen, nutzte er dabei die Meditation zu geistigen Themen und die Bestätigung durch spirituelle Erfahrungen. Und er teilte diese in Gestalt eines theologischen Schriftstellers mit. Obgleich er sich 1747 nach 31 Jahren Pflichterfüllung aus dem Bergwerksdirektorium zurückzog, erfüllte er interessanterweise weiterhin pflichtgemäß seine politische Rolle in der Adelskammer, war sozial aktiv und während seines ganzen Lebens für jedermann erreichbar.91
Im Juli 1745 kehrte Swedenborg nach Stockholm zurück, erwarb ein Grundstück jenseits des Flusses und bezog dort bald darauf ein Haus, das er selbst instand gesetzt hatte. Er legte einen Kräutergarten an, errichtete ein Sommerhaus mit Bibliothek, installierte eine Hausorgel, die er gerne spielte, und ließ sich also in einem bequemen Haus nieder. Mit Ausnahme seiner Auslandsaufenthalte sollte er hier den Rest seines Lebens verbringen.92
Swedenborgs spirituelle Erfahrungen und sein Verständnis der Bibel waren eng miteinander verwoben, und er betrieb beides engagiert. Er folgte beiden als Pfaden zu größerem Verständnis und größerer Weisheit. Seine spirituellen Erfahrungen häuften sich; oft ereigneten sie sich, während er zu Hause über bestimmte Themen still meditierte, aber auch in der Öffentlichkeit, sogar während er in öffentlichen Ämtern diente. Sie distanzierten ihn offensichtlich nicht von seinen persönlichen und öffentlichen Pflichten. Über viele Jahre hinweg hielt er sie geheim und veröffentlichte seine theologischen Schriften 20 Jahre lang sogar anonym. Dabei empfand er tief, dass die Einsicht, die er aufgrund seiner Erfahrungen erlangt hatte, ihn zu einer genuinen Konzeption der Realität führte, denn sein neues Verständnis und seine neue Weltsicht begriffen sowohl spirituelle als auch natürliche Erfahrung als vollständig kompatibel und als integrales Ganzes.93
Swedenborg studierte die Bibel intensiv und verfertigte mehrere vorbereitende Studien, bevor er sein erstes großes theologisches Werk, die Arcana Coelestia26* in den Jahren 1749 – 1756 veröffentlichte. Es handelt sich um ein umfangreiches achtbändiges Werk, mit 5.800 Seiten und 10.000 sorgfältig nummerierten Abschnitten, in denen die Bücher Genesis und Exodus Kapitel für Kapitel, Vers für Vers, Wort und Wort dargelegt und kommentiert werden. Dabei wird der den Buchstaben der behandelten Bücher innewohnende spirituelle Sinn enthüllt. Swedenborg behauptete zu Beginn, dass die Bibel im Literalsinn27* formulierte, verborgene Bedeutungen enthalte, deren sich die christliche Welt nicht bewusst sei. Er führte weiter aus, dass er vom Herrn durch spirituelle Einsicht angeleitet und instruiert sei, diese inneren, tieferen Bedeutungen, die in den Buchstaben enthalten seien, mitzuteilen. In seinen gesamten theologischen Schriften stellte Swedenborg fest, dass ihm seine Einsichten vom Herrn und nicht von Engeln oder Geistern gewährt worden seien. Obgleich er spirituelle Erfahrungen mit solchen Wesenheiten machte, lehrten sie ihm nichts Neues. Eher bestätigten sie Einsichten, die ihm schon gewährt worden waren.94
Zwischen den Kapiteln fügte Swedenborg zahlreiche Essays über Lehrthemen und über Erfahrungen der anderen Welt ein. Dabei maß er dem Lehrmaterial die gleiche Bedeutung zu wie der biblischen Darlegung. Später überarbeitete er vieles von diesem Material, das er zwischen die Kapitel eingefügt hatte, und veröffentlichte es 1758 in vier kleineren Werken.95
Der Charakter von Swedenborgs theologischen Schriften ist deutlich von demjenigen seiner früheren wissenschaftlichen Werke unterschieden. Seine wissenschaftlichen, insbesondere seine anatomischen Werke zitieren Informationen zeitgenössischer Autoritäten, woraufhin seine eigenen Schlussfolgerungen zu dem präsentierten Material folgen. Seine theologischen Werke hingegen sind von ganz anderem Ton. Sie sind mehr im Stil einer Autorität formuliert, die sich aus eigenständiger spiritueller Erfahrung und biblischer Exegese begründet – ohne jeden Bezug auf weitere Autoritäten. Auch dabei ging Swedenborg die Themen zwar noch in einer umfassenden und analytischen Weise an, die auf Erfahrung beruhte, doch nun handelte es sich um seine eigenen Erfahrungen und nicht um die von anderen. In seinen theologischen Werken ist deutlich ein gesteigertes Selbstvertrauen und entsprechende Gewissheit zu bemerken.
Swedenborg veröffentlichte die Arcana Coelestia anonym 1749 – 1756 in London. Obgleich es in Schweden tatsächlich keine Druckerei gab, derartige Werke zu verlegen, so ist es doch auch wahrscheinlich, dass einige schwedische Autoritäten manchen der theologischen Ideen in seinem Werk widersprochen hätten; dies insbesondere, da es einige Konzepte enthielt, die sich radikal von jener der lutherischen Kirche, der schwedischen Staatsreligion, unterschieden. So publizierte Swedenborg in den folgenden 20 Jahren seine theologischen Werke anonym und änderte dieses Vorgehen erst viele Jahre später. Zudem schien es in London leichter, anonym zu veröffentlichen, als in