für zwei, drei Vorführungen«, warf Linus ein.
Felber verdrehte die Augen.
»Jans Vater hat eine Drehorgel für den Einzug in den Belvoirpark organisiert.«
»Toll, dann deckt er ja den Bereich Unterhaltung vollständig ab. Meret erwartet wohl nicht von mir …«
Linus winkte ab. »Nein, sie nicht, aber ich in meiner Funktion …«
»Lass dir ja nicht einfallen, mich überraschend nach vorne zu holen!«, drohte Felber, doch Linus war schon auf dem Weg in sein Zimmer.
Vom Flur aus rief er: »Übrigens, morgen ist Schifferstechen. Geht ihr auch hin?«
»Was für ein Stechen?«, fragte Felber, überrascht von Linus’ plötzlichem Themenwechsel.
»Das Schifferstechen«, übersetzte Sara.
Felber zog entschuldigend die Augenbrauen hoch.
Linus, der bis zur Tür zurückgekehrt war, schüttelte entgeistert den Kopf. »Man könnte meinen, du seist erst vor Kurzem nach Zürich gezogen. Aber vom Sechseläuten hast du schon mal gehört?«
»Sagt mir etwas.«
»Das Schifferstechen ist der zweitwichtigste Anlass der Zürcher Zünfte nach dem Sechseläuten!«, erklärte Sara.
»Eine Art Ritterturnier«, ergänzte Linus. »Mit Weidlingen auf dem Wasser.«
»Klingt faszinierend«, murrte Felber.
»Bei dem Wetter wird es Unmengen von Zuschauern haben«, gab Sara zu bedenken.
»Ein guter Grund, nicht hinzugehen«, schloss Felber das Thema ab.
Sara blinzelte Linus zu und hob entschuldigend die Schultern.
Der verschwand in seinem Zimmer.
»Du meinst doch nicht etwa, dass Linus tatsächlich vorhat…«, begann Felber.
Sara schüttelte den Kopf. »Dafür nimmt er sein Amt viel zu ernst.«
Meret hatte Linus nämlich gebeten, an ihrer Hochzeit den »Tätschmeister« zu spielen, wie man hierzulande den Zeremonienmeister nennt. Auch wenn er es nicht zugeben mochte, war er unglaublich stolz darauf. Felber war überzeugt, dass er mit Hingabe und vollem Einsatz an die Aufgabe herangehen würde. So schwierig und unnahbar er als Kind gewesen war, so seltsam und unfreundlich er auch jetzt noch oft wirkte, legte er doch immer wieder eine Fähigkeit an den Tag, besondere Momente besonders zu gestalten. Einmal hatten Deborah und Felber bemerkt, dass sie ihren Hochzeitstag vergessen hatten. Sie waren losgegangen, um im Denner einen Prosecco zu kaufen. Als sie zurückkamen, war die Wohnung abgedunkelt, Kerzen brannten auf dem Tisch, auf ausgebreiteten Servietten lagen Teller mit Gebäck, aus der Stereoanlage drang Vogelgezwitscher und Meditationsmusik.
Felber waren Anlässe mit vielen Leuten in Anzügen und Krawatten ein Graus. Natürlich freute er sich für seine Tochter, mit der Mischung aus Stolz und Schmerz, die wohl alle Väter angesichts der Hochzeit ihrer Kinder empfinden. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er zurzeit keinen Sinn für solche Dinge hatte. Zu sehr beschäftigte ihn die Frage nach Deborahs Mörder, die ewige Sorge, auch Meret und Linus könnten auf der Todesliste des Wahnsinnigen stehen. Er fragte sich, ob sich das je ändern würde, ob er je die Fragen beantworten, die Sache abschließen könnte.
Im Moment zumindest konnte er es nicht. So saß er wieder einmal abends in seinem kleinen Arbeitszimmer neben der Essnische. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Landkarte von Kanada ausgebreitet. Er hatte für August eine Bahnreise mit dem »Ocean« geplant, nur für sich und Linus, von Halifax nach Montréal, von da weiter nach New York. Dort würden sie Sara treffen, die ihrerseits einige Wochen bei ihrer Tochter Noélia in New Jersey verbringen wollte. Die Reise war ein kleines Zugeständnis an Linus, weil Felber für Meret und ihre Hochzeit so viel Geld aufwendete, während Linus keine Anstalten machte, sich fürs Leben zu binden.
Die Karte hatte er aber in einem ganz anderen Zusammenhang aufgeschlagen: Ein pensionierter Beamter der »Sûreté du Québec« hatte sich auf seine Anfrage hin per Mail gemeldet. Alex Fortin schrieb, er habe damals, 1997, die Ermittlungen bei den Sonnentempler-Morden von Morin-Heights und Saint-Casimir geleitet und wolle Felber gern bei seinen Untersuchungen weiterhelfen. Er bat ihn, ihm präzise Fragen zukommen zu lassen, und bot ihm an, sich in einigen Tagen über Skype zu besprechen.
Während Sara bei leiser orientalischer Musik im Wohnzimmer an seinem Anzug nähte und Linus pfeifend zwischen der Küche und seinem Zimmer hin- und herging, formulierte Felber seine Fragen. Die erste war diejenige nach dem Verbleib von Joël Dalimier.
»Was machst du denn mit diesem altertümlichen Ding?« Linus war vor der Bürotür stehen geblieben. Nun trat er zum Tisch und musterte die Karte. »Unsere Strecke?«
Felber nickte.
Linus folgte der Bahnlinie mit dem Finger und nahm dann die Reiseunterlagen in die Hand, die daneben lagen. Plötzlich stockte er. »Du hast Sleeper Touring Class gebucht?«, fragte er fassungslos.
Felber nickte lachend. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, für die zweitägige Fahrt die teurere Kabine mit Zugang zum Panoramawagen zu reservieren.
»Das ist … Das ist … wow!«
Als Felber Linus kurz darauf am Kühlschrank hantieren und vor sich hin pfeifen hörte, nahm er seine Kartenstudien wieder auf. Nicht allzu weit von der Bahnstrecke entfernt lagen zwei kleine Ortschaften: Morin-Heights und Saint-Casimir, wo sich in den 90er-Jahren zwei Morde im Umfeld der Sonnentempler-Sekte ereignet hatten. Sollte sich wirklich eine Spur des verschollenen Joël Dalimier finden, dann hier. Von Montréal aus, rechnete Felber, waren es rund 100 Kilometer, in unterschiedliche Richtungen. Zwar hatten Linus und er dort einen Tag Aufenthalt geplant. Aber wie würde Linus darauf reagieren, wenn er ihn auf der gemeinsamen Reise allein ließ, um seinen eigenen Ermittlungen nachzugehen?
Kapitel 4
Von kräftigen Ruderschlägen vorangetrieben zogen zwei Weidlinge in gerader Bahn aufeinander zu. Die beiden Stecher hatten sich bereits auf das Podest im Heck gestellt, hoben nun mithilfe der vorne Sitzenden die Lanzen in Richtung des entgegenkommenden Bootes. Die Münster-, die Rathausbrücke und das Limmatufer waren voller Zuschauer, auf der Wühre, dem schmalen Fußweg auf der linken Flussseite, war kein Durchkommen mehr. Auch auf den Trottoirs des Limmatquais stand man dicht gedrängt, und von den regelmäßig durchfahrenden Trams sah man hinter Wurstbuden und Festzelten nur die Stromabnehmer hin- und herfahren.
Nur noch wenige Meter trennten die beiden Boote. Schon schien der Zusammenprall unvermeidlich, da erfolgten zwei kräftige Stöße mit den stumpfen Lanzen. Mit wenigen Zentimetern Abstand schossen die Boote aneinander vorbei. Die Stecher rangen einen Moment lang um ihr Gleichgewicht, dann stürzte einer von ihnen, es war der Vertreter der Stadtzunft, in voller Kleidung in die Limmat. Applaus und Hurra-Rufe aus den Zuschauerrängen, ein Punkt für die Zunft zum Kämbel. Die Boote wurden gewendet, der Besiegte schwamm zur Anlegestelle, wo man ihm aus dem Wasser half.
Der »Storchen«, Hotel, Restaurant und Tagungsort im Herzen der Zürcher Altstadt, war das Stammlokal der Zunft zur Schiffleuten, die zusammen mit dem Limmat-Club alle drei Jahre das Schifferstechen organisierte. In diesem Jahr hatte man sich wegen der steigenden Besucherzahl des gleichzeitig stattfindenden Züri-Fäschts dazu entschlossen, den traditionsreichen Anlass bereits einen Monat früher stattfinden zu lassen.
Gastgeber und geladene Gäste anderer Zünfte hatten sich unter den Arkaden des blumengeschmückten Gebäudes am Limmatufer versammelt, mit Blick auf das Turniergeviert und das Grossmünster mit seinen eigentümlichen Doppeltürmen, auf denen aus Anlass des Tages die weiß-blauen Kantonsfahnen wehten. Die meisten Anwesenden trugen Trachten, die an die Goethe-Zeit erinnerten, die Schiffleuten-Zünfter breitkrempige schwarze Hüte und blaue Gehröcke, andere Dreispitz oder Zylinderhut. Alles in allem eine bunte Blütenlese der »besseren« Zürcher Gesellschaft, wie schon seit der Gründung der Zünfte im späten Mittelalter.
Délphine Michelet stand zwischen Vater und Sohn Brunegg, mit einem