ihrer Tochter Carole am Vorabend. Der Wettkampf der jungen Zünfter ging völlig an ihr vorbei. Sie schaute höchstens kurz von ihrem Weißwein auf, wenn das Johlen der Menge anzeigte, dass wieder jemand seinen Kontrahenten ins Wasser befördert hatte und seine Zunft in die nächste Runde brachte. Mit halbem Ohr hörte sie, wie Jakob Brunegg mit Altregierungsrat Meienberg Small Talk hielt, über Wetter, Zunftanlässe und Familie, worüber man halt so sprach an einem solchen Tag.
Seine Nichte, erzählte der Weißhaarige, sei bei der Polizei, Kriminalpolizei, Leiterin einer Dienststelle.
Jakob zog bewundernd die Brauen hoch, mit diesem etwas spitzbübischen Ausdruck, der offenließ, was er wirklich dachte.
Jakob Bruneggs Sohn Thomas erklärte derweil einer hübschen jungen Frau in einem luftigen Sommerröckchen und einer großen Blume im Haar, dass man das Schifferstechen im Mittelalter mit Harnisch, Schild und Helm ausgeführt habe. Dabei seien immer wieder Wettkämpfer von ihrer Rüstung nach unten gezogen worden und ertrunken. Das sei bestimmt um einiges spannender gewesen als das hier.
Délphine rieb sich die Arme, sie hatte eine Gänsehaut bekommen. Sie zwang sich, ihren Stiefsohn zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht. Die brutalen Züge um die Mundwinkel, die Kälte in seinen Augen … Sahen das die anderen denn nicht? Nun, man musste eben genau hinsehen. Nicht wie diese dummen Mädchen mit ihren Sommerröckchen und Sandalettchen.
So wie Délphine Michelet nie heimisch geworden war unter den Zunftleuten, hatten auch diese sie nie als ihresgleichen akzeptiert, auch nicht 25 Jahre nachdem der alte Brunegg ihretwegen seine Frau verlassen hatte, Erbin einer steinreichen Bankiers-Familie. Délphine war fast 20 Jahre jünger als Jakob, stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte in ihren jungen Jahren als Stripperin gearbeitet und beschäftigte sich nun seit Längerem mit Persönlichkeitsentwicklung und Bewusstseinserweiterung, mit »Okkultismus und Sektendingen«, wie die anderen sagten. Aber sie hatte in all den Jahren auch nie die Akzeptanz dieser Gesellschaft gesucht. Wenn sie ehrlich war, empfand sie bloß Verachtung gegenüber diesen Leuten, die krampfhaft versuchten, ihren gesellschaftlichen Status zu betonen. CEOs, Anwälte, Politiker, in ihrem Gefolge Frauen mit Sandaletten und Sommerröckchen, die in dieser Männerdomäne nur Dekorationswert hatten, an bestimmten Zunftanlässen nicht einmal im gleichen Saal wie ihre Männer essen durften! Wenn man die jungen Männer betrachtete, die sich um Leute wie Jakob scharten, um Kontakte zu knüpfen, für Praktikumsstellen in international tätigen Anwaltskanzleien oder Handelskammern, dann war das jedoch auch eine Form der Prostitution.
Nein, sie hatte nur Verachtung für diese Gesellschaft und ihre spießbürgerlichen Traditionen und Anlässe übrig. Immerhin würden diese aufhören, wenn Jakob nicht mehr war. Denn auch wenn er mit seinen 80 Jahren noch stattlich daherkam, »etwas darstellte«, wie man sagte, in Tracht und Zylinder, so fraß doch der Krebs in ihm. Natürlich redete man in einer Familie wie der Brunegg’schen nicht darüber. Man stockte nur stillschweigend das Pflegepersonal auf und ließ von Zeit zu Zeit neues medizinisches Inventar liefern.
Aber die Zeichen standen auf Veränderung. Es war ein Mondjahr. Im März hatte man im Thurgau Hunderte toter Vögel gefunden. Wie Steine seien sie vom Himmel gefallen. Die zuständigen Behörden hatten keine Erklärung für das Phänomen. Dabei war es klar: Es waren Zeichen. Zeichen für Veränderung. Veränderungen waren unumgänglich, doch diese machte Délphine Angst. Nicht so sehr der Verlust von Jakob, vielmehr dass sie mit Thomas allein zurückbleiben würde. Ein Widder im Sternzeichen, Venus und Mond superdominant – eine hochproblematische Ausgangslage. Zwar machte die astrologische Konstellation einen Menschen nicht automatisch zum Psychopathen, aber in diesem Fall war es eben so.
Und nun auch noch dieser Anruf von Carole. Der Name Felber. Der Sohn des alten Felber forsche den damaligen Sorgerechtsfällen nach. Es war, als tauche der Geist des alten Beamten aus der Vergangenheit auf. Die schrecklichen Bilder vom vergangenen Winter kamen in ihr hoch, vom Herbst vor vier Jahren, Gedanken an die Fehler von damals vor über 20 Jahren. Das alles wirbelte auf, legte sich schwer um sie, während die Zünfter blind ihre immer gleichen sinnentleerten Veranstaltungen abhielten, Schifferstechen und Sechseläuten, Martinimahl und Bott, geordnet, verhalten, konventionell.
2004 war sie zusammen mit Jakob knapp dem Tsunami in Thailand entronnen. Sie erinnerte sich, dass nicht einfach eine Flutwelle gekommen war, sondern dass sich zuerst das Meer vollständig zurückgezogen hatte, völlige Ebbe, Schiffe lagen umgekippt auf dem Sand. Und dann, erst dann war die Welle gekommen und mit ihr Tod und Verwüstung.
Die Glocken von St. Peter schlugen 15 Uhr, es ging in die Finalrunde.
Kapitel 5
Neben einer Apotheke führte eine Glastür ins kühle Treppenhaus. Die Sektenberatung befand sich im dritten Stock, die anderen Stockwerke beherbergten Zahnärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und anderen Dienstleister für Körper und Seele. Felber war froh, dass er im Wartezimmer allein war. Er blätterte in einigen Broschüren, legte sie aber bald wieder zur Seite, ging im nüchternen Zimmer herum und blickte durch das doppelverglaste Fenster. Von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht über das Universitätsviertel bis hinunter zum See.
Der kleine Mann mit dem schütteren Haar, der ihn nach einigen Minuten abholte, stellte sich als Herr Lüönd vor und führte Felber durch einen langen Gang in ein Besprechungszimmer auf der anderen Hausseite. An den Wänden hingen moderne Malereien, die aussahen wie das Gekleckse, das Meret und Linus ein paar Jahre lang aus Spielgruppe und Kindergarten nach Hause gebracht hatten. Lüönd wies Felber einen Platz auf einem schwarzen Ledersessel zu und setzte sich hinter einen Schreibtisch mit Glasplatte.
»Sie haben wegen den Sonnentemplern geschrieben«, resümierte er nach einem Blick auf seinen kleinen Laptop.
Felber nickte.
»Mir ist nicht ganz klar geworden, aus welcher Motivation heraus Sie Informationen suchen. Sie sind mit der Gruppierung wohl kaum in Berührung gekommen?«
Felber schüttelte den Kopf. »Schauen Sie: Mein Vater hat lange Zeit für die Vormundschaftsbehörde des Kantons Freiburg gearbeitet. Als sich die Dramen von Cheiry und Granges-sur-Salvan ereigneten, war ich etwas über 20. Wir lebten bereits in Zürich, aber mein Vater hat sich noch mit den Sorgerechtsfällen befasst, bei denen es darum ging, ob man Sektenmitgliedern die Kinder wegnehmen und zu ihrem eigenen Schutz in Pflegefamilien unterbringen durfte.«
Der Sektenexperte nickte langsam. »Verstehe ich also richtig, dass Sie hier sind, um Ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten?«
Felber nickte langsam.
»Wissen Sie, eigentlich beraten wir Menschen, die unsicher sind, weil sie mit Gruppierungen in Berührung gekommen sind, von denen sie nicht wissen, ob es Sekten sind; Eltern, deren Kinder sich von ihnen abwenden oder sich radikalisieren, Leute, die in Abhängigkeit geraten sind und Hilfe für den Ausstieg suchen.«
Felber reagierte nicht. Aus unzähligen Einvernahmen wusste er genau, welche Redestrategien zum Ziel führten. In vielen Fällen war es das Beste, nichts zu sagen.
»Also Familiengeschichte«, schloss Lüönd etwas irritiert ab.
»Gibt es heute noch Ableger des OTS hier in Zürich?«, fragte Felber.
»Der Orden des Sonnentempels war in der Romandie aktiv, daneben gab es Gruppen in Frankreich und in Kanada, aber in Zürich …«
»Die Führungsriege«, fuhr Felber fort, »hat sich immer wieder auf sogenannte Meister in Zürich berufen, die auf die Entscheide Einfluss genommen haben sollen. Wer war das?«
Lüönd lehnte sich vor und lächelte verschwörerisch. »Diese Meister in Zürich«, erklärte er, »waren wohl Di Mambros Finanzbeziehungen.«
Felber runzelte die Stirn.
»Man weiß heute, dass die Sektenführung, also Jo Di Mambro und Luc Jouret, das Ganze auf zwei Ebenen betrieben haben: Zum einen verfolgten sie eindeutige finanzielle Interessen, und da spielten diese Beziehungen in Zürich bestimmt eine wesentliche Rolle. Auf der zweiten, der spirituellen Ebene konnten sie diese sogenannten Meister aber auch gut brauchen, um die Leute in Schach zu halten.«
Felber