sagte er geheimnisvoll. »Di Mambro ist vor dem Transit mehrmals nach Zürich gefahren. Offenbar ging es um Geld. Wer dahinterstand, weiß man nicht.«
»Und heute? Gibt es heute noch Ableger?«
»Mir sind keine Aktivitäten des OTS bekannt. Wir haben ein Wirrwarr von neuen Gruppierungen, der islamistische Extremismus ist ein großes Thema. Es ist schwierig, die Übersicht zu behalten.«
Felber nickte verständnisvoll.
»Die Sonnentempler wurden eine Zeitlang noch observiert, aber irgendwann hat sich die Gruppe aufgelöst. Ihr Gedankengut ist übrigens ein Amalgam verschiedenster esoterischer Richtungen, wie man sie auch bei anderen Gruppierungen findet. Nicht nur bei esoterischen Geheimbünden, auch bei Anthroposophen …«
»Vor einem Jahr«, unterbrach ihn Felber, »hatte ich mit einem Fall von Cybermobbing zu tun. Ein Mädchen sagte aus, sie gehöre zu einer Gemeinde von Rosenkreuzern oder Sonnentemplern – ich erinnere mich nicht an die genaue Bezeichnung.«
»Einen Fall?«, fragte der Experte kritisch.
»Kriminalpolizei. Wir hatten damals …«
»Moment mal, sind Sie jetzt als Polizeibeamter hier oder als Privatperson?«
»Ich bin im Moment nicht im Dienst und wegen der … Familiengeschichte hier«, erklärte Felber.
»So, so«, murmelte Lüönd und schien zu überlegen, ob er Felber seine Hilfe weiter angedeihen lassen sollte oder nicht. »Warten Sie«, sagte er schließlich und hämmerte eine Zeitlang auf seinem Laptop herum. »Es gibt eine Gruppe, die sich als Rosentempler bezeichnet – wie originell! Wie ich der Übersicht entnehme, sollen auch Leute darunter sein, die aus dem Umfeld des OTS stammen, Überlebende, die sich wieder zusammengefunden haben. Interessant, war mir nicht bekannt.«
Felber war hellhörig geworden. »Das verstehe ich nicht: Da sind über 50 Menschen brutal getötet worden, und diese Leute können einfach weitermachen, als ob das eine kleine Panne gewesen wäre?«
Der Experte musterte ihn. »Das ist ein Phänomen, das man nach solchen Ereignissen häufig beobachtet. Zuerst sind die Überlebenden schockiert, die Medien decken schreckliche Dinge auf, man redet von Verbrechen, von Wahnsinn. Aber nach und nach finden sie sich wieder zusammen, beginnen die Sachen umzudeuten, geben Einzelnen die Schuld, um an den Glaubensinhalten festhalten zu können. Wer jahre- oder jahrzehntelang in einer solchen Struktur gelebt hat, kann das nicht von einem Tag auf den anderen ablegen.«
Das leuchtete Felber ein.
»Das Gedankengut des Ordens«, fuhr der Schüttere fort, »ist in seinem Kern ungefährlich. Gefährlich ist, was Einzelne daraus gemacht haben: Sie haben die Leute in Abhängigkeit gebracht, sie genötigt, alle anderen Beziehungen abzubrechen, und das bedeutete gegenseitige Kontrolle, totale Überwachung, Fronarbeit und finanzielle Ausbeutung. Dann, gegen Ende, kamen die Polizeiermittlungen dazu, Paranoia, Endzeitstimmung …«
»Die Gruppe steht also nicht mehr unter Beobachtung?«, hakte Felber nach.
Der andere schüttelte den Kopf. »Seit Ende der 90er-Jahre nicht mehr. Dazu kommt, dass dieser Ableger, wie ich hier lese, keine neuen Mitglieder rekrutiert. Es scheint eine kleine, fast private Gemeinschaft geworden zu sein.«
»Gibt es Teilnehmerlisten?«
»Nein, natürlich nicht.«
Felber kratzte sich am Nacken. »Wenn ich diese Leute kontaktieren wollte, an wen müsste ich mich da wenden?«
Lüönd blickte ihn mit einem Ausdruck von spöttischem Unglauben an. »Mein Guter, wir sind eine Sektenberatung, keine Sektenvermittlung!«
Es gab sie also doch, sagte sich Felber, als er mit dem 6er-Tram zurück ins Zentrum fuhr, inmitten von lärmenden Schulklassen, die wahrscheinlich den Zoo besucht hatten. Lukas Baumgartner würde ihm weiterhelfen müssen. Er würde seinen Kollegen und momentanen Stellvertreter um die Informationen bitten, wenn er morgen das Gespräch mit der Dienstchefin hatte.
Es war so heiß, dass die Studentinnen von Uni und ETH kaum mehr als Hotpants, Trägershirts und Wasserflaschen trugen. Ums Unispital heulten ununterbrochen die Sirenen von Krankenwagen, die Hitzeversehrte aus den umliegenden Alters- und Pflegeheimen einlieferten. Die News-Anzeige im Wageninneren gab bekannt, dass wieder ein neuer Hitzerekord verzeichnet worden war: 34,2 Grad. Es folgte die Ankündigung eines massiven Stellenabbaus bei einer Großbank, danach die Meldung, ein lokaler Jungpolitiker sei in der Zürcher Allmend tot aufgefunden worden. Felber war froh, dass ihn solche Dinge im Moment nichts anzugehen brauchten.
In einer plötzlichen Eingebung rief er Sara an. Sie war im Kunsthaus, ganz in der Nähe also, hatte eine Klasse durch eine Ausstellung geführt und eben verabschiedet. Sara arbeitete als Lehrerin für Kunstgeschichte an einem Zürcher Gymnasium. Sie schlug vor, vor dem Kunsthaus auf ihn zu warten.
Dieses war vor einigen Jahren renoviert worden. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo früher ein altehrwürdiges Schulhaus gestanden hatte, hatte man ein weiteres Gebäude, einen architektonisch hochmodernen Würfel gebaut, der noch mit Baufolie verdeckt war. Von Weitem schon sah Felber Sara, die sich im museumseigenen Café einen Platz unter einem Sonnenschirm gesichert hatte, neben einer schwarzen Plastik, die mit viel Fantasie eine Meerjungfrau darstellte.
Sie hatte mit einer fünften Gymi-Klasse eine Ausstellung von Picasso, Gorky, Kandinsky und weiteren Künstlern besucht und war vor allem hingerissen von der Arbeit einer französischen Malerin, die Farbe, Unmengen von Farbe, auf große Leinwände spritzte. Sie zeigte ihm eines der Bilder im Katalog. Spritzer, Schlirggen. »Diese Dynamik … diese Kraft!«
Das Bild weckte bei Felber vor allem einen unbändigen Durst. Während Sara ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte, sah er sich nach einem Kellner um, als könne er ihn allein durch die Kraft seiner Blicke an den Tisch ziehen.
Als Sara es bemerkte, hielt sie inne und legte das Buch sorgfältig in ihren Rucksack zurück. »Und du?«, fragte sie.
»Sektenberatung.«
»Wegen … Wegen der Sache?«
Er nickte und hoffte, sie würde nicht weiterfragen. Sie redeten selten, eigentlich nie darüber, aber Felber entging es nicht, dass sie sich Sorgen machte. Sorgen, dass er sich verrannte, dass ein richtiges Burn-out drohte, dass er paranoid wurde.
Er versuchte, das Thema auf etwas anderes zu lenken.
Nach einer Weile legte Sara lächelnd ihre Hand auf seine. »Du bist nicht bei mir.«
Er zog entschuldigend die Brauen hoch und war froh, dass in diesem Moment der asiatische Kellner die zuvor georderten eisgekühlten Getränke brachte.
Felber erzählte Sara, um überhaupt etwas zu sagen, dass er morgen mit Petra Meienberg über seine Wiedereinstellung reden würde.
»Übernächste Woche, da steigst du wieder ein, oder?«
»Mhm.«
Kapitel 6
Übernächste Woche sollte er wieder anfangen, darauf beharrte auch Petra Meienberg, Dienstchefin und Felbers direkte Vorgesetzte. Sie war es zwar gewesen, die Felber mehrmals nahegelegt hatte, eine Auszeit zu nehmen, um die Sache mit seiner Frau zu verarbeiten (als ob man so etwas in ein paar Wochen verarbeiten könnte!), aber jetzt schien ihr doch sehr daran gelegen, ihn bald wieder im Team zu haben.
Er saß in ihrem Büro mit den gerahmten Stichen und Gemälden von Landschaften am Zürichsee, sie ihm gegenüber hinter ihrem dunklen Schreibtisch, mit der Goldbrille, dem ledergebundenen Notizbuch und den Markenkleidern. Im Lauf der Jahre hatte Felber die Mittfünfzigerin schätzen gelernt. Sie war es gewesen, die ihm vor einigen Monaten unter vier Augen mitteilte, dass die Aargauer Polizei eine Leiche entdeckt hatte – sehr wahrscheinlich diejenige seiner Frau. Und sie hatte, nach Abschluss des Vermisstenfalls von Wald, seinen Antrag auf eine Auszeit aus gesundheitlichen Gründen gutgeheißen.
Heute wirkte sie auf Felber ein wenig steif. Sie schien unsicher, wie sie die Dinge ansprechen