bezahlten, naturwissenschaftlich-akademischen Medizin. Während ein Antibiotikum eine zwingende Wirkung hat, die in entsprechenden Studien nachweisbar sein kann, ist dies bei Probiotika nicht möglich, da sie auf ein persönliches Mikrobiom treffen. Dementsprechend unterschiedlich fielen die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zu Probiotika aus. Erst ab den neunziger Jahren gab es überhaupt welche, dann eine stetig zunehmende Anzahl. Doch untereinander vergleichen lassen sie sich ebensowenig. Damit wurden sie für viele Ärzte nicht nachvollziehbar. Es ist auch hier so: Mikroorganismen sprengen das menschliche Begreifen.
Geht man heutzutage in ein Reformhaus, um ein Probiotikum zu erwerben, findet man Pulver oder Kapseln, die aus verschiedenen Stämmen von zum Beispiel bei minus 180 Grad Celsius schockgefrosteten und gefriergetrockneten Mikroben bestehen. Meistens sind es Milchsäurebakterien der Stämme Lactobacillus oder Bifidus. Sie werden geschluckt oder in Wasser eingerührt und zum Essen eingenommen. Viele enthalten auch sogenannte Prä- oder Prebiotika, worunter man Substanzen versteht, die Bakterien im Körper als spezifische Nahrung dienen, sogenannte Ballaststoffe (siehe Seite 143ff.). Werden »Probiotikum« und »Präbiotikum« kombiniert, nennt man dies »Symbiotikum«. Diese Bezeichnung ist jedoch eher theoretischer Natur, denn niemand bittet im Geschäft um ein »Symbiotikum«, und auch in der Fachliteratur ist dieser Begriff unüblich.
Mit der Einnahme eines Probiotikums verbindet sich die Vorstellung, seiner Gesundheit etwas Gutes zu tun, speziell bei Darmerkrankungen oder wenn ein Antibiotikum angewendet wurde. Erst »Anti«, dann »Pro« – damit drückt sich die Gegensätzlichkeit aus, die sich im vergangenen Jahrhundert entwickelt hat. Beide Begriffe waren zuvor überflüssig. Man ernährte sich ganz natürlicherweise mit einer ausreichenden Menge von Bakterien. Jetzt gibt es Probiotika für jedes Lebensalter, vom Baby bis zum Greis, für Sportler, gestresste Manager und Reisende in ferne Länder. Sie heißen nach Kuscheltieren, tragen kraftvolle Marken wie »Stress Repair«, so als ob man Stress mit Bakterien reparieren könne. Sogar ein »Breitband«-Probiotikum wird bereits beworben.
Damit werden Bakterien für eine weitere Medikamentierung des Lebens benutzt. Eine Monatsration derlei Probiotika kann gut und gern so kostspielig werden, dass man stattdessen gleich bakteriengerechte und naturnah angebaute Lebensmittel kaufen kann. Heilung besteht darin, sein Leben in ein gesundes Fließgleichgewicht zu bringen, und nicht, den kranken Zustand durch Pulver und Pillen zu stabilisieren. Die meisten solcher Präparate sind zwar tauglich, sie genügen jedoch in der Regel nicht für eine Genesung.
Man muss Bakterien auch nicht mit »magensaftresistenten« Kapseln schlucken. Kapseln bestehen aus künstlich gefärbter Hart- oder Weichgelatine[6], die in der Regel bereits nach kurzer Verweildauer im Magen aufgelöst wird[7]. Ebenso können die enthaltenen Bakterien künstlich mit magensaftresistenten Eigenschaften versehen worden sein.
Dick- und Sauermilch
Alle alten Kulturen kannten »probiotische« Gärgetränke, die einen Reichtum an lebenden Bakterien und an bakteriellen Stoffwechselprodukten mit sich brachten – die übrigens den künstlich hergestellten Probiotika fehlen. Honig wurde zu Met vergoren, Früchte zu Wein, Getreide zu Bier und Korn (siehe Seite 172ff.). Wo es Milch gab, gab es auch Sauermilch. Diese bildet sich, wenn Bakterien aus der Luft sich mit der Milch spontan verbinden, und die Mikroben beginnen, die Milch zu verdauen. (Im deutschsprachigen Raum spricht man eher von »Dickmilch«). Der Milchzucker wird dabei von den Bakterien in Säuren umgesetzt, in Milchsäuren, Buttersäuren, Essigsäure, Ameisensäure, daher der Zusatz »sauer«. Und dadurch sinkt der pH-Wert. Dies löst die zuvor homogenen Milcheiweiße aus ihrem Zusammenhang, indem die als Micellen bezeichneten Milchkügelchen gelockert werden und bei weiterer Säuerung ein kurzkettiges Gel entsteht, eine Art Netz. In dessen Zwischenräumen liegen dann bakterielle Verdauungsenzyme und bakteriell verdaute Milchbestandteile als Mikronährstoffe vor, darunter enzymatisch abgespaltene Aminosäuren und gelöste Mineralien.98 Dieser Vorgang bringt die »Dicklegung« der Sauermilchprodukte mit sich, was sie besser transportierbar und über längere Zeit haltbar macht. Je nach beteiligten Bakterien werden dazugehörige Aromata, Eiweißketten oder wie bei Crème fraîche Gummi- und Schleimstoffe abgegeben.
In der Kulturentwicklung der Menschheit lernte man, diesen mikrobiellen Prozess bewusst zu lenken und dadurch unterschiedliche Sauermilchbereitungen entstehen zu lassen. Aus der vollen Milch zum Beispiel Kumys, Kefir, Dickmilch oder Joghurt, aus dem Rahm saure Sahne, Schmand oder Crème fraîche. Die Dicklegung der Milch erfolgt spontan nur, wenn sich frische Milch mit geeigneten Bakterien vermischt. Sie setzt also handwerkliches Melken und die passende natürliche Luftzusammensetzung voraus, wie es in Deutschland bis zum letzten Jahrhundert auf dem Land gegeben war. Sobald die Milch gekühlt oder erhitzt wurde oder wenn die Bakterienzusammensetzung in der Raumluft nicht passt, wird die Milch stattdessen nach längerem Stehen ungenießbar.
Im 19. Jahrhundert wurde von Louis Pasteur die Keimabtötung mittels Hitze initiiert, die nach ihm »Pasteurisierung« genannt wurde. Da man ja damals fälschlich noch davon ausging, dass Bakterien im menschlichen Körper nichts zu suchen hätten, und da man »Krankheitskeime« abtöten wollte, führte man die Milcherhitzung von Gesetzeswegen ein.[8] Damit verschwanden nicht nur die Milchbakterien aus unserer Ernährung, sondern auch das Verspeisen frischer »Dick«milch mit all ihren hilfreichen Effekten für die Gesundheit (siehe Seite 174). Um weiterhin Käse und Dickmilch zu produzieren, gab man ab 1890 der Milch künstlich gezüchtete Starterkulturen für die Sauerlegung bei.99 So war der natürliche Bakterienkreislauf fortan abgeschnitten. Zur Bakterienversorgung wurde stattdessen ab 1919 der künstlich unter besonderem Wärmeeinsatz hergestellte Joghurt ins nördliche Europa eingeführt.100
Inzwischen weiß man, dass die Milchbakterien über das Blut aus dem Verdauungstrakt der Muttertiere stammen. Für einen gesunden Milchverzehr ist es also wichtiger, sich um Futterqualität, Wohlbefinden und Bakterienversorgung der milchspendenden Tiere zu kümmern, als in einer ungesunden Milch hinterher Bakterien zu töten. Zuerst Tiere in unnatürlicher Massenhaltung aufzuziehen, ihre dadurch entstandenen Krankheiten antibiotisch zu behandeln und dann ihre Milch zu erhitzen ist abwegig und entfernt Tiere, Milch und ihre Produkte immer weiter vom natürlichen lebendigen Nahrungskreislauf. Gesunde Tiere geben auch gesunde Milch.
Kefir
Im Kaukasus war diese Sauermilch der Kefir[9]101 oder »Milchwein«, ein Volksgetränk und Heilmittel zugleich. Er bildet sich im Miteinander mehrerer Pilze und Bakterien[10].102 Kefirknollen werden mit Kuh-, Schafs- oder Ziegenmilch an der Luft angesetzt – früher in ledernen Schläuchen –, und die daraus nach einem Tag gebildete Gärmilch samt Mikroben wird abgegossen, mit frischer Milch vermischt und luftdicht abgefüllt weiter fermentiert. 1892 wurde Kefir in Deutschland erstmals mikrobiologisch beschrieben.103 Frisch gemacht ist er kohlesäure-, milchsäurereich und alkoholhaltig. Die Milcheiweiße werden durch die Mikroben vorverdaut
Joghurt
Die Herstellung von Joghurt gelangte offenbar von den Nomadenvölkern über das Osmanische Reich und den Balkan nach Europa. Sie unterscheidet sich in dem Sauerlegen der Milch durch eine andere Bakterienmischung, die bei einer höheren Temperatur gedeiht, so wie sie in den südlichen Ländern häufig ist. Bereits im 16. Jahrhundert wird von Reisenden vom jugurt aus der Türkei nach Deutschland berichtet.104 Doch auch in Homers Ilias, etwa im 7. Jahrhundert vor Christus, ist bereits von der »Milchkost« der Thraker, eines Reitervolksstammes im heutigen Bulgarien, die Rede. Der von Elias Metschnikow zur Joghurtbereitung eingeführte Lactobacillus bulgaricus stammt von dort. Das Wort kommt vielleicht von yogurmak, dem türkischen Wort für »kneten, mischen, hart machen«,[11] und lautet in quasi allen europäischen Sprachen ähnlich. Es benennt ein fermentiertes Sauermilchprodukt, bei dem die beteiligten Bakterien Milchbestandteile