die Grenzen unserer Mikrobiomtoleranz längst weit überschritten und bekommen nun die Folgen überall zu spüren.
Bakterielle Resistenzen
Neben Bakterienmangel ist eine logische Folge von Antibiose die Veränderung der übrig bleibenden Bakterien und die Ausbildung von Resistenz. Resistenz bezeichnet die Fähigkeit von Einzellern, Pflanzen, Tieren oder Menschen, gegenüber lebensbedrohenden Giften aus der Umgebung zwecks Überleben unempfindlich geworden zu sein. Sind Bakterien gegenüber einem Antibiotikum resistent, wirkt das Mittel nicht mehr gegen sie. Das heißt, dass sie sich trotz der Anwendung bakterienhemmender Mittel weiter vermehren oder trotz bakterientötender Mittel weiter leben können.
Wie kommt solch eine Resistenz zustande?
Gesunderweise leben Bakterien wie alle Wesen immer und überall in Verständigung miteinander und mit der Umgebung. Sie haben feine Wahrnehmungsorgane in Form bestimmter Oberflächengebilde auf ihrer Hülle, die nach Kontakt von außen im Zellinneren eine passende Reaktion bewirken, damit sie die der Umwelt angemessene Aktivität entfalten. Das ist die Voraussetzung für ein Miteinander des Mikrobioms mit Körperzellen. Sie lesen dadurch die Umgebung beständig ab und sind fähig, auf veränderte Bedingungen jederzeit angemessen zu reagieren. Indem sie ihr ganzes Leben beständig fein den Gegebenheiten anpassen, können sie den jeweils wechselnden Umständen, wie sie beispielsweise durch das Essen im Darm entstehen, stets gerecht werden und ihre jeweiligen Aufgaben vor Ort unentwegt gemeinschaftlich erfüllen.
Der Information der Einzeller untereinander und auch mit den Körperzellen von Pflanze, Tier und Mensch dient der Austausch kleinerSignalbotenstoffe. Antibiotika sind nun, wie wir gesehen haben, isolierte und verdichtete, also zur Verstärkung kräftig angereicherte Formen solcher Signalstoffe. Es sind Botschaften, die zum Beispiel Schimmel- oder Bodenpilze natürlicherweise gegenüber Bakterien in kleinen Mengen abgeben, um sich über Aktivitäten in der Umgebung zu verständigen. Diese Verständigung erfolgt gemäß einer jahrmilliardenalten Entwicklung zu höherem Leben und dient den Mikroben zur Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben.
Die zu Antibiotika erklärten Substanzen bedienen diese Kommunikation, allerdings nun künstlich verstärkt und mit der Absicht, Bakterien zu töten. Sie sind quasi eine von Menschen nachgemachte und gewaltig übersteigerte Nutzung ihrer naturgegebenen Verständigungsweise, eigentlich ihr Missbrauch. Bildlich gesprochen, ist es, als würde man das Sprechen und Hören von Menschen gegen sie nutzen, indem man ihnen Sprache per Megaphon so laut ins Ohr plärrt, dass sie vor Schreck erstarren oder tot umfallen. In diesem Bild bestünde eine mögliche Resistenz darin, sich Ohrstöpsel oder Kopfhörer auf die Ohren zu setzen, den Lautsprecher zu zerlegen oder den Strom abzudrehen, damit man wieder normal weiterleben, sich in Ruhe unterhalten und seiner Tätigkeit nachgehen kann.
Bakterien reagieren auf einen Angriff von Antibiotika, deren Ausmaß sie bedroht, wie alle Lebewesen mit einer Art SOS-Reaktion. Sie können je nach Bedarf Enzyme aktivieren, die die antibiotische Substanz spalten oder verändern, sie können die Molekülanordnung in sich selbst verwandeln, ihre Zellwand verdicken, Pumpen zum Ausschleusen der Substanz in Gang setzen und anderes mehr. Es sind also zuvor angelegte Möglichkeiten, die nun durch Antibiotika aktiviert werden.
Als man das Prinzip der Resistenz gegenüber Antibiotika anfangs beobachtete, meinte man, die Bakterien reagierten mit einer Art Neuentwicklung von Eigenschaften. Man glaubte, sie wehrten sich gegen den Menschen. Mittlerweile fand man jedoch, dass die Information für Antibiotikaresistenzen bereits in den Genen von Bakterien prähistorischer Funde liegt. Die Möglichkeit zur Neutralisierung von Signalbotenstoffen, also auch der Antibiotika, gehört nämlich zum natürlichen Repertoire der Bakterien. Die Information dazu befindet sich meist auf kleinen Genstücken gespeichert, die man »Plasmide« nennt und die frei im Zellinneren liegen. Anders als das Chromosom der Bakterien können diese Plasmide beliebig untereinander ausgetauscht und auch einfach in die Umgebung abgegeben werden. Es gibt Resistenzplasmide für Enzyme, die bereits mehr als zwei Millionen Jahre alt sind66 und seit Millionen von Jahren unter Bakterien ausgetauscht werden. AndereResistenzgene fand man in rund 30 000 Jahre alten Sedimenten im Permafrost des Beringmeeres.67 Auch Ötzi, die 5000 Jahre alte Gletscherleiche, trug bakterielle Resistenzgene im Darm.
Was wir also Resistenz nennen, ist in Wirklichkeit keine Neuerrungenschaft, vielmehr die natürliche Fähigkeit von Einzellern, ihre Kommunikation fein zu regulieren. Nur, dass nun auf zu viele Botenstoffe eine entsprechend große Regulation erfolgt. Es ist nachvollziehbar, dass ein Botenstoff, nachdem er seine Wirkung gezeigt hat, ja irgendwie neutralisiert werden muss. Dass das unserer Absicht zuwiderläuft, Bakterien zu behindern, und dass wir es folglich »Resistenz« nennen, ist bloß die einseitige Sicht der menschlichen Idee von Bekämpfung und Widerstand.
Solange Antibiotika noch natürlichen Ursprungs waren, wurde vorhandene Resistenzfähigkeit in Bakterien einfach aktiviert. Durch die Entwicklung künstlicher Antibiotika entstanden dann zusätzliche Mechanismen. Damit begegnen die Bakterien den Angriffen so, dass das Leben auf der Ebene der Kleinstlebewesen möglichst trotzdem bestehen bleiben kann. Nach obigem Bild des Megaphons schützen sich die Mikroben vor dem Übermaß an Lautstärke und machen die »Ohren« dicht – mit der Folge, dass sie dann untereinander und mit Körperzellen natürlich auch nicht mehr wie zuvor »reden« können. So führen Antibiotika über die aktivierten Resistenzen zu neuen Problemen. Das Übermaß an Resistenzen, das auf der Erde jetzt die Politiker alarmiert, ist der verzweifelte Versuch der Bakterien, auf unsere unmäßige Verwendung ihrer Signalbotenstoffe ausgleichend zugunsten der Rettung der Erde zu reagieren. Je mehr Antibiotika eingesetzt werden, desto mehr Resistenzaktivität wird es folglich geben. Jedenfalls, solange es Bakterien gibt.
Seit Beginn der Antibiotika-Verwendung wurden Zigtausende Tonnen künstlich produziert und auf der Erde verteilt. Allein in den Jahren 2000 bis 2010 stieg der weltweite Antibiotikaverbrauch um 30 Prozent.68 Dabei wirkt beispielsweise Penicillin gegen Staphylokokken bereits in einer Verdünnung von 1 zu 84 Millionen!69 Über Mensch und Tier und Produkte werden 30 bis 90 Prozent der Wirkstoffe unverändert ausgeschieden,70 gelangen ins Abwasser und reichern sich in allen Lebensräumen an. Man hat Erdboden von heute mit archiviertem Boden vom Jahr 1940 verglichen und eine um mehr als 15 Prozent höhere Menge von Resistenzgenen im Vergleich zu früher gefunden. Wir haben die Erde in eine Resistenzhyperaktivität getrieben.71
Am stärksten entwickeln sich Resistenzen dort, wo die meisten Antibiotika eingesetzt werden und wo am wenigsten gesunde Bakteriensind. Länder mit hohem Antibiotikaumsatz verzeichnen hohe Resistenzraten.72 Die Massentierhaltung mit Antibiotika führt zur massiven Resistenzgenentwicklung und zum Resistenzgenaustausch. In konventionellen Schweinemastställen fand man in Nasenabstrichen bei 92 Prozent der Tiere resistente Bakterien.73 Sie leben im Stallstaub, in der Nase der Landwirte, fliegen in die Umgebung und bleiben im verkauften Fleisch. Im Extremfall verschwinden normale, nicht resistente Bakterien völlig.74
Beim einzelnen Menschen können sich diese Folgen antibiotikaresistent gewordener Bakterien auf vielfältige Weise äußern: Sei es in einer Schwächung des Immunsystems, in Verdauungs- oder Wundheilungsstörungen, in Erbrechen und Durchfällen bis zur Austrocknung, in Atemwegserkrankungen, Organversagen, massiven Entzündungen bis hin zur Blutvergiftung und zum Tod.
»Krankenhauskeime«
In Krankenhäusern entstehen mehr Resistenzen als außerhalb von ihnen, was zur Bezeichnung »Krankenhauskeime« für resistente Bakterien dort geführt hat. Hunderttausende von Menschen jährlich werden in Deutschland damit neu besiedelt. Zehntausende sterben daran. Natürlich bleiben die Bakterien aber nie an einem Ort. Durch die Dichte antibiotikabehandelter Menschen und die vielen desinfizierenden Maßnahmen entwickeln sich allerdings in Krankenhäusern oft gleich mehrere Resistenzaktivitäten gleichzeitig. Weist ein Bakterium drei oder mehr davon auf, spricht man von »Multiresistenz«. Diese versucht man durch sogenannte »Reserveantibiotika« weiter zu bekämpfen. Wenn auch diese keine Wirkung mehr zeigen, weil die Bakterien entsprechend reagieren, ist die moderne akademische Medizin gegenüber Erkrankten buchstäblich hilflos.
Ein großer Prozentsatz auch der gesunden Bevölkerung trägt die veränderten Resistenzgene unbemerkt in sich und überträgt sie durch