und Heilmittel wurden spätestens seit damals als zweierlei verschiedene Dinge angesehen, was es absurderweise bis heute möglich macht, sich ungesund zu ernähren und dann Medikamente für die Gesundheit zu schlucken.
Sicherlich ist der Zweifel bei der modernen industriellen Herstellung von Joghurt, der womöglich mit gentechnisch manipulierten Bakterien kultiviert wurde, vollkommen berechtigt. Wissenschaftliche Studien bestätigen jedoch grundsätzlich, dass sein Verzehr das bakterielle Leben im Darm unterstützt. Er senkte zum Beispiel das Durchfallrisiko bei Patienten, die Antibiotika schluckten, um 57 Prozent.81
Ging es Elias Metschnikow überwiegend um die Verlängerung des Lebens, erforschten damals andere Wissenschaftler die »Antagonismen«, also die Wechselwirkungen zwischen den Bakterien oder ihre Wirkung auf den Körper. Sie erkannten deren Bedeutung für die Gesundheit. Es wurden auch viele erfolgreiche Heilungswege mit Bakterien entwickelt (siehe Seite 172ff.), die aber bald durch die Dominanz der Antibiotika verdrängt wurden.
Escherichia coli
Der Freiburger Hygienearzt Alfred Nißle (1874–1965), ab 1912 Privatdozent und später Professor am Institut für Hygiene der Universität Freiburg im Breisgau, entdeckte, als er bei den Vorbereitungen mikrobiologischer Kurse E.-coli-Bakterien mit Typhusbakterien mischte, dass sie unterschiedliche Wechselwirkungen zeigten, je nachdem, von wessen Stuhl sie stammten. Manche Coli-Bakterien konnten die Typhusbakterien auf der angelegten Nährbodenkulturplatte einfach verdrängen.82 Er entwickelte Reinkulturen daraus und erstellte einen »Coli-Index« aus dem Verhältnis der beiden Bakterienstämme, der diese Fähigkeit widerspiegelte. Menschen, die solche Coli-Bakterien im Darm trugen, waren nach seinen Beobachtungen gegenüber Darmerkrankungen geschützt. Aus den Coli, die auf dem Index den stärksten »antagonistischen Wert« hatten, entwickelte er schließlich ein Medikament[1], mit dem er 1917 die »antagonistische Coli-Therapie« als neues Heilprinzip in die Medizin einführte (siehe Seite 193).83 Er gab die E. coli aus besagtem Stuhl Kranken in Kapseln zu schlucken. Viele Patienten, die zum Teil bereits jahrelang Durchfälle hatten, auch akut schwer erkrankte, wurden damit kuriert.
Der Stamm E. coli Nißle 1917 ist seither weltberühmt. Er ist in der Deutschen Sammlung für Mikroorganismen in Braunschweig für den allgemeinen Gebrauch hinterlegt, wird beständig weitervermehrt und ist in etlichen modernen probiotischen Mitteln enthalten. Er ist ein treuer Begleiter der Menschen geworden.
Bereits damals bemerkte man, dass das Schlucken der Bakterienkapseln nicht nur Darmerkrankungen zu heilen imstande war, sondern zugleich Krankheiten kurierte wie Leber- und Gallenleiden, »ungenügende Nahrungsausnutzung«, Allergien, Hautausschläge, Frauenleiden, Migräne, Neurodermitis, Blutarmut, Gelenk-, Magen-, Blasenentzündungen, Gicht, Depressionen und mehr. Sogar Heilungen bei Krebs werden berichtet. Warum, konnte man damals nicht erklären, doch vermutete man, dass das Fehlen »wertvoller« Bakterien zur Ansiedelung solcher führt, die sich unpassend vermehren und zu einer ungesunden Gesamtheit führen. Nißle nannte dies »Dysbakterie«[2] und vermutete darin die Hauptursache für Krankheitszustände.84
Im Grunde genommen spricht Nißle unbemerkt in seinen damaligen Veröffentlichungen bereits das nötige Gleichgewicht in der Bakterienbesiedelungan, das die Mikrobiomforschung jetzt wieder als lebensnotwendig entdeckt. Er schrieb damals, dass es auf die Stärke der eigenen »persönlichen« Coli-Bakterien »gegenüber Infektionserregern« ankomme.85 Allerdings hielt er seine Coli für die einzigen Bakterien, die sich im Darm ansiedelten, während geschluckte Milchsäurebakterien dies dort den Stuhluntersuchungen nach nicht taten. Er begrenzte seinen Blick damals auf diese einzelne Bakterienart, und so fehlte ihm die Einsicht in die größere bakterielle Vielfalt.
Nißle war Stabsarzt, hatte also eine militärische Ausbildung, und als Lösung sah er standesgemäß die »Bekämpfung« der Situation. Auch er war in seinem Denken gefangen, hatte allerdings bereits ein anderes Menschenbild als das auf Seite 21ff. geschilderte.86 Während man sich zuvor den Menschen als bakterienfrei vorstellte und alle Bakterien als äußere Feinde betrachtete, die ihn bedrohen, entwickelte man nun das Bild, es gebe im Menschen gleichzeitig gesunde und krank machende Bakterien. Diese befänden sich beständig in Konkurrenz gegeneinander und bekämpften sich innerhalb des Organismus. Der Kampf wurde quasi ins Innere des Menschen verlagert. Daraus entwickelte sich die Vorstellung, es gebe »gute« und »schlechte« oder gar »böse« Bakterien, und die guten seien zu fördern und die schlechten auszurotten. Für die guten nimmt man folglich Probiotika, gegen die schlechten Antibiotika. So buk die heute zu Bahlsen gehörende sächsische Wurzener Biscuitfabrik in den dreißiger Jahren »Krietsch Yoghurt-Kekse«, deren »Gesundheitsbakterien« »Körper und Geist vor den verderblichsten Feinden«, den »giftigen Bakterien«, »sichern« sollten.
Diese Vorstellung ist heute noch weit verbreitet,[3] obwohl sie ebenfalls längst überholt ist. Sie deckte sich natürlich leicht mit einem Denken zu Kriegszeiten, in denen die Welt in »Freund« und »Feind« aufgeteilt wird, was eine häufige Projektion des Menschen ist, nicht nur auf die Einzeller. Mit deren Dasein und der Lebenswirklichkeit auf der Erde hat es jedenfalls nichts zu tun. Diese ist nachweislich überall auf Miteinander ausgelegt, mit beständiger Kommunikation zugunsten höheren Lebens.
Alfred Nißle gilt als der Begründer der probiotischen Therapie, auch wenn es diesen Begriff erst später gab. Er hatte gezeigt, dass Bakterien Krankheiten heilen. Tragischerweise entwickelte sich sein Therapieansatz in einer Zeit, die politisch anders ausgerichtet war und in der bald darauf der »Siegeszug« der Antibiotika begann.
Belächelt von Vertretern der »offiziellen« Medizin, lebte die Darmbehandlung mit Bakterien daraufhin erfolgreich ein bescheidenes Schattendasein in der »Alternativmedizin«, bis die Mikrobiom-Forschungswelle sie jetzt wiederbelebte. Im Jahr 2015 nennt Die Rote Liste, das Arzneimittelverzeichnis für Deutschland, 19 370 Medikamente in 5503 Präparate-Einträgen.87 Darunter sind nur 446 pflanzliche und bloß 46 mit Mikroorganismen.
In gewisser Hinsicht wird die alte Coli-Therapie neuerdings sogar wieder aufgegriffen, denn in der modernen »Stuhltransplantation« mit dem Schlucken von Kapseln mit Stuhl einer anderen Person (siehe Seite 206) kehrt man, ohne bewusst darauf zurückzugreifen, nach hundert Jahren in die Anfänge der Darmbakterientherapie zurück.
Heilen mit Bakterien wurde in dem Jahrhundert ihres Bestehens immer wieder diskutiert, und die positiven Wirkungen bei Mensch und Tier wurden in wissenschaftlichen Studien vielfach nachgewiesen.88 Solange man die Therapie jedoch auf nur einen Einzelstamm beschränkt, bleibt sie unvollständig. Sie wurde daher nicht allgemein anerkannt.
Milchsäurebakterien
In den Jahren nach Nißle entwickelten zahlreiche Forscher mit den offenbar sympathischeren Milchsäurebakterienstämmen ebenfalls Heilkonzepte. Während die Coli-Präparate zu Medikamenten wurden, wurden aus Milchsäurebakterien eher »Probiotika«. Einen kläglichen Versuch, den bekannt werdenden Antibiotikaresistenzen im Körper etwas Schützendes entgegenzusetzen, gab es dazwischen in den sechziger Jahren mit dem »Antibiophilus«, einem Medikament mit »antibiotikaresistentem Lactobacterium acidophilum«[4]: 10 Gramm für 9,05 (!) DM, Dosierung: 3 bis 4 halbe Kaffeelöffel täglich.
Albert Döderlein (1860–1941) hatte im Jahr 1890 die Milchsäurebakterien als gesunde Besiedelung der Vagina entdeckt. Der Kinderarzt Ernst Moro (1874–1951) kultivierte sie in saurer Bierwürzebrühe und nannte sie acidophilus, »säureliebend«. Henri Tissier (1866–1926), Kinderarzt im Institut Pasteur in Paris, isolierte 1899 aus dem Stuhl gestillter Babys das milchsäurebildende Bifidobakterium, das durchfallkranken und flaschenmilchgefütterten Kindern mangelte. Seinen Namen bifidus, lateinisch für »in zwei Teile gespalten«, erhielt es 1924wegen seiner Y-ähnlichen Form. Lactobacillus und Bifidobacterium sind bis heute zwei der gängigsten Probiotika-Gattungen. Sie können für ein Gleichgewicht im Mikrobiom sorgen.89
Man versuchte, besonders geeignete Stämme