als seien es Bausteine, aus denen sich das Leben beliebig kombinieren ließe. Man dachte sich den menschlichen Körper aus vielen Organen zusammengesetzt, die aus vielen Zellen bestehen. Diese teilte man später in ihre kleinen Elemente bis in abgeteilte Gene als Bausteine der Erbinformation, mit denen schließlich heute biotechnologische Genmanipulation betrieben wird. In der weiteren Entwicklung verlor man das Miteinander bei Einzeller und Mensch völlig aus dem Blick. Man dachte, der Mensch könne nur überleben, wenn er sich vor Bakterien schützt. Diese Vorstellung ging mit einer allgemeinen Entfremdung vom Zusammenleben mit der Natur einher, die der schleichende Verlust bäuerlicher Landwirtschaft und die fortschreitende Industrialisierung mit sich brachten. Gespeist wurde dies wie gesagt aus einem Geist der Trennung, untermalt von der Idee des Kampfs aller Teile um ein Überleben ihrer selbst.
Diese Mischung von Beobachtung, Fehldeutungen, Fantasie, Zeitgeist und Projektion ergab folgende Vorstellung: Es gibt einen abgegrenzten Menschen. Außerhalb des Menschen gibt es Krankheitserreger, die ihn ständig damit bedrohen, in den Körper einzudringen. Zur Abwehr dagegen hat der Körper ein Immunsystem. Bakterien geben angeblich obendrein Gifte ab, »Toxine«[5], die zerstörend wirken.28 Dagegen bildet der Organismus »Antikörper«. Schleim und Speichelfluss, so stellte man sich vor, dienten dazu, innere Oberflächen ständig von aus der Umwelt aufgenommenen Bakterien und deren Gifte »freizuspülen«.29
Gesundheit, so folgte daraus, bestehe darin, zu verhindern, dass krank machende Bakterien in den Körper gelangen können. Wird der Mensch krank und findet man Bakterien, handelt es sich um eine »Infektion«[6]. Krankheit wird also als ein von außen an den Mensch herantretendes Schicksal gedacht, und bei einer »Infektionskrankheit« gilt eine zugehörige Mikrobenart als Verursacher. Dies wird wiederum außerhalb des kranken Menschen diagnostiziert, nämlich durch Bakterienkultur im Labor. Ein von außen einwirkendes Mittel zur Bekämpfung dieser Bakterien in Menschen, das Antibiotikum, wiederum gilt dazu als Therapie. Heilung besteht in der möglichst »vollkommenen Desinfektion des infizierten Organismus«.30
Dieses Denkmodell und Menschenbild ist noch immer weit verbreitet, obwohl es längst überholt ist. Gute Hygiene, so folgte aus dieser Idee, besteht in weitgehender Befreiung des Lebens von Bakterien. Daraufhin setzte sich der Glaubenssatz »Steril ist gesund« in den Köpfen und Handlungen der allermeisten Menschen fest.
Wie widersprüchlich solch eine Vorstellung war, wird einmal mehr daran deutlich, dass man damals sehr wohl beobachtete, dass im gesunden Körper zahlreiche Bakterien leben. Man deutete sie jedoch als Schmarotzer, die sich von abgestorbenen Körperzellen ernährten, dadurch das Leben verkürzten und potenziell zu Krankheitserregern werden konnten. Folglich benannte man sie bei ihrer jeweiligen Entdeckung statt nach ihren typischen Eigenschaften gern nach der Krankheit, mit der man sie in Verbindung beobachtete, zum Beispiel Streptococcus pneumoniae[7].
Dieses im 19. Jahrhundert entstandene Lebensbild von Bakterien ist ein mit großer Tragweite für die Weltgesundheit entstandener Irrtum mit unerfassbaren Folgen für das Leben und die Zukunft der gesamten Erde.
[1] Zum Beispiel das Antimykotikum »Voriconazol«.
[2] Zum Beispiel bei »Ciprofloxacin«.
[3] Vom griechischen mónos für »einzig, allein« und lateinischen cultura zu colere »pflegen, bebauen«.
[4] Auch kurz E. coli. Benannt nach dem Kinderarzt und Bakteriologen Theodor Escherich (1857– 1911) und dem griechischen Wort kõlon für »Darm«.
[5] Als »Toxin« bezeichnet man in diesem Zusammenhang bakterielle Eiweiße, die von lebenden Bakterien an die Umgebung abgegeben (Exotoxin) oder aus zerfallenden Bakterien freigesetzt werden (Endotoxin). Heute weiß man, dass diese Toxine »mikrobielle Vitamine« sind, die als Botenstoffe das Gleichgewicht im Immunsystem aufrechterhalten.
[6] Vom lateinischen inficere, aus facere für »machen« und in für »in, hinein«.
[7] Pneumonie, die Lungenentzündung. Vom griechischen pneũma für »Wind, Atem, Luft«.
Antibiotische Mittel: Ein Missverständnis
Die Suche nach bakterientötenden Mitteln
Nachdem Bakterien zu Krankheits»erregern« von Infektionskrankheiten erklärt worden waren, die nicht nur Wundheilungsstörungen verursachten, wie man bereits länger glaubte, sondern auch Erkrankungen innerer Organe, suchte man nach Wegen, um sie im Körper zu beseitigen. 1877 hatte man die bakterientötende Wirkung von UV-Strahlen und 1892 die von elektrischem Licht entdeckt. Man unternahm mit Körperteilen Versuche zur Bakterienvernichtung durch Röntgenstrahlen und Uran, mit Radium und spezifischen Wellenspektren, mit α- und γ-radioaktiven Strahlen, mit Kurzwellen, Hochfrequenzströmen und mit elektrischem Gleichstrom.31 Sie alle scheiterten daran, dass der Mensch dabei zu große Schäden litt, bis die Bakterien wie gewünscht beseitigt waren.
Gleichzeitig suchte man nach bakterientötenden chemischen Stoffen. Der Erste, der ein chemisches Mittel gegen körperinnere Lebewesen entwickelte, war der Pathologe Albert Adamkiewicz (1850–1921). Er ging davon aus, dass Krebs von einem Parasiten namens Coccidium sarcolytus hervorgerufen werde, und entwickelte dagegen im Jahr 1890 aus Leichengift das »Cankroin«.32 Sein Werk wurde allerdings kaum gewürdigt.
In einem Arzneimittelbuch von 191633 werden noch vier Wege aufgezählt, Infektionskrankheiten zu behandeln: die vorsorgliche »Abhaltung der Organismen vom Körper«, die »Zustandsverbesserung der befallenen Organe«, eine »Bindung der produzierten Toxine« oder eine »unmittelbare Wirkung auf die Mikroben«. Vier Wege also, Heilung zu bewirken. Im Text behandelt wird jedoch nur der letzte. Dafür unterschied man »Antiseptika«, die bakterielles Leben hemmen, von den »Desinficientia«, die Bakterien töten. Zur Entfernung der »Fäulniserreger« aus dem Darm werden kräftige Abführmittel empfohlen.34 Die anderen drei Heilungsansätze werden nirgends weiter ausgeführt. Damit beschränkte sich die Arzneimittellehre auf die Beseitigung der Bakterien.
Die große Schwierigkeit dabei bereitete die generelle Wirkung der dazu eingesetzten Desinfektionsmittel, die nicht bloß die Einzeller, sondern zugleich auch Körperzellen schädigten. Man überlegte sogar, verschiedene Antiseptika gemischt anzuwenden, die alle zusammenauf Bakterien wirken, aber dabei verschiedene Körperorgane je nur ein bisschen schädigen. Darauf, eine Mischung verschiedener Einzeller als Heilmittel einzusetzen (siehe Seite 242ff.), wäre man im damaligen Denken im Traum nicht gekommen.
Stattdessen entstanden künstliche Stoffe. Paul Ehrlich (1854–1915) änderte im Jahr 1910 das altbekannte Arsen chemisch ab zum Arsphenamin, das den Wunsch nach Abtöten von Einzellern unter Erhalt von Körperzellen erfüllte. Es war gegen die Treponema pallidum wirksam, eine Spirochäte[1], die 1905 als Verursacher der Syphilis identifiziert wurde. Weil es durch eine chemische Strukturänderung einer natürlichen Substanz entstand, nannte man es ein »Chemotherapeutikum«. Mit diesem Mittel, dem »Salvarsan«, verdiente die herstellende Firma, die Farbwerke Höchst, im ersten Geschäftsjahr knapp drei Millionen Mark.35 Der Kampf gegen die Bakterien hatte die Farben- und chemische Industrie damit erstmals im großen Stile zum Partner der Medizin gemacht. Schon damals rief dies heftige Kritik bei den Zeitgenossen hervor. Es war eine Weichenstellung in der