Kohlenhydraten, Fetten, Eiweißen, Mineralien et cetera, Bodenfruchtbarkeit als die Summe von Mineralsalzen wie Phosphor, Stickstoff und Kalium, den Menschen als Summeseiner Organe. Und diese Teile ließen sich beliebig trennen und unabhängig voneinander nicht nur beschreiben, sondern scheinbar auch wie Bausteine benutzen. Lebensvorgänge in Zellen betrachtete man als die Summe chemischer Gesetzmäßigkeiten, die man bloß kennenlernen musste und dann beeinflussen konnte. Essen wurde auf Stoff- und Kalorienaufnahme reduziert. Vereinzelung galt als Methode zum Erkenntnisgewinn. Der Widerspruch, dass sich Teilstücke aus etwas Lebendigem nie wieder in dessen Ursprung zusammensetzen lassen, aus Nährstoffen beispielsweise weder wieder Birne noch Brötchen werden, gesundes Leben folglich aus mehr bestehen muss als bloß der Summe seiner Teile, wurde geflissentlich übersehen.
In der Forschung ebenso wie im Alltagsleben begann eine Technisierung. Mit aller Ernsthaftigkeit folgten daraus später Texte wie beispielsweise in einem Buch über Landwirtschaft: Die Kuh – eine chemische Fabrik.17 Oder folgender: »An dem Tage, an welchem man die entsprechend billige Kraft bekomme, werde man mit Kohlenstoff aus der Kohlensäure, mit Wasserstoff und Sauerstoff aus dem Wasser und mit Stickstoff aus der Atmosphäre Lebensmittel aller Art erzeugen. Was die Pflanzen bisher taten, werde die Industrie tun, und zwar vollkommener als die Natur. Es werde die Zeit kommen, wo jedermann eine Dose mit Chemikalien in der Tasche trage, aus der er sein Nahrungsbedürfnis an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten befriedige, unbekümmert um Tages- und Jahreszeit, um Regen und Trockenheit, um Fröste, Hagel und verheerende Insekten. Dann werde eine Umwälzung eintreten, von der man sich jetzt noch keinen Begriff machen könne: Fruchtfelder, Weinberge und Viehweiden werden verschwinden; der Mensch werde an Milde und Moral gewinnen, weil er nicht mehr von Mord und der Zerstörung lebender Wesen lebe. Die Erde werde ein Garten, in dem man nach Belieben Gras und Blumen, Busch und Wald wachsen lassen könne, und das Menschengeschlecht werde im Überflusse und der sagenhaften Freude des goldenen Zeitalters leben.«18
Man muss diesen Zeitgeist kennen, um die Irrwege in der Geschichte der Mikrobiologie zu verstehen. Heute wissen wir, dass diese Entwicklung uns weltweit Not und Krankheiten einbrachte, Mangel und Armut und statt eines »Gartens« eine geplünderte, missachtete und verschmutzte Erde. Auf Gewinn an Milde und Moral warten wir noch.
Diese Zeit der Technisierung brachte Fortschritte in der Mikroskopie mit sich. Einzeller konnten nun bequem einzeln vergrößert dem menschlichen Auge sichtbar gemacht werden, und durch chemische Färbung ließen sie sich unterscheiden, sodass man fasziniert begann, diese neue Welt im Kleinsten vermehrt zu erforschen.
Auch politisch wurde Neuland erobert: Mit Schiffsflotten und Exkursionen machten Delegationen der europäischen Länder sich auf, um in anderen Kontinenten Land zu besetzen und dies zu Kolonien zu erklären. Prompt erklärte man Bakterien, die auf einer Nährlösung wachsen, ebenfalls zu einer Bakterien»kolonie«.
In dieser Zeitenstimmung wurde mikrobiologische Forschung betrieben und Neues beobachtet. Und die Forscher dachten dazu, so gut sie konnten, doch offensichtlich konnten sie – jedenfalls die führenden, deren Meinungen beherrschend wurden – dabei nicht aus ihrer Haut. Vielleicht setzten sie sich gerade deshalb gegenüber anderen durch, weil ihre Ansichten sich bequem mit der allgemeinen Zeitenströmung deckten. Mikrobiologische Forschung wurde durch diese Geistesbrille hindurch gedeutet, und diese Brille war nicht paradiesisch rosa, sondern militärisch und vereinzelnd imprägniert.
Militärisches Vokabular als Hindernis in der Bakteriologie
Bis zum heutigen Tage kann man dies allein bereits am Sprachgebrauch ablesen, der sich in Zusammenhang mit Einzellern eingebürgert hat. Da ist von »angreifenden« Bakterien und der »Verteidigung« durch ein wachsames Immunsystem die Rede. »Eindringlinge« müssen durch »Antikörper« in Schach gehalten werden, und wenn diese »Verteidigungslinie« zu schwach ist, kommt es zur »Invasion«. »Heerscharen« irgendwelcher »Killer« »lauern« in der Umgebung und »bedrohen« den Menschen. Stoffwechselprodukte von Bakterien wurden als »Kampfstoffe« bezeichnet,19 und Mikroskopieren galt als Betrachten der Bakterien mit »bewaffnetem Auge«.
Typischerweise klingt es dann so: »Der Eroberungsfeldzug unserer Körpergenossen beginnt in der ersten Lebensminute.«20 Oder: »Die bakterielle Landnahme geht schrittweise voran.« Beides ist im Übrigen falsch. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, strotzen selbst Texte von renommierten Instituten, in Fachbüchern und akademischen Forschungsberichten, sobald es um Einzeller geht, von verbalem Kriegsgeklapper.21
So wurde das aus dem 19. Jahrhundert stammende, heute jedoch nicht mehr gültige Denken der Zeit im Vokabular über Bakterien langfristig festgeschrieben und erschwert bis heute ihre unvoreingenommene Betrachtung. Wir hängen verbal noch im vorletzten Jahrhundert fest. Vieles wäre schon einmal gewonnen, wenn man Aussagen über Bakterien von jeglichen kämpferisch-militärischen Begriffen gründlich befreite. Sie drücken nicht die Wahrheit aus. Die Forscher damals projizierten ihre Politik, Psyche und Stimmung blindlings auf die Kleinstlebewesen, und wir dürfen diese jetzt wieder vollständig daraus entlassen.
Wenn man unbedingt Bakterien in Zusammenhang mit Krieg betrachten wollte, würde nämlich auffallen, dass Bakterien zu allen Zeiten viel eher daran beteiligt waren, Feldzüge, Belagerungen und Schlachten zu beenden. Rickettsia mit Fleckfieber, Salmonella mit Typhus, Corynebacterium mit Diphtherie oder Vibrio mit der Cholera zwangen mehr Heere zum Frieden, als es Menschen jemals vermochten.
Mikroben können sich nicht wie Menschen verhalten. Uns Menschen unterscheidet von Einzellern, Steinen, Pflanzen und Tieren unser individuelles Ich-Bewusstsein. Wir haben die Freiheit, in unserem Denken und Handeln zu wählen. Mit dieser Freiheit geht Verantwortung einher und bilden sich moralische Werte wie »gut« und »schlecht« aus. Bakterien als »gut« oder womöglich gar als »böse« oder »gewalttätig«22 zu bezeichnen, ist zwar ein Kompliment für sie, weil man ihnen vieles zutraut, es geht jedoch völlig an ihrer Wirklichkeit vorbei. Und wenn daraus Handlungen abgeleitet werden wie »die ›guten‹ Bakterien schützen, die ›schlechten‹ bekämpfen«, so kann das nur gründlich schiefgehen.
Die Erfindung bakterieller Reinkultur
Entscheidend für die Meinungsbildung über Bakterien waren Forschungen mithilfe einer Technologie, die der in Paris wirkenden Chemiker (!) Louis Pasteur (1822–1895) bereits 1857 für seine Versuche mit Bakterien nutzte: der »Reinkultur«. Der Berliner Arzt und Mikrobiologe Robert Koch (1843–1910) erweiterte diese Technik auf das Prinzip fester Nährstoffplatten, auf denen Bakterienwachstum besser sichtbar wurde als in flüssiger Lösung zuvor.
Die Reinkultur besteht darin, Einzeller »von allen fremden, toten oder lebendigen Materialien, die sie begleiten«, abzulösen.23 Dass das gar nicht möglich ist, weil auch jede künstliche Nährlösung im Labor noch »tote oder lebende Materialien« hat, die sie begleiten und beeinflussen, wurde satte 150 Jahre lang geflissentlich übersehen. Selbst die Eigenschaften unterschiedlicher Gläser beim Experimentieren und Mikroskopieren beeinflussen das Bakterienwachstum. Schon Spuren von Kupfer, Zink, Bor, Alkali und anderem führen zur Abtötung oderVermehrung, das heißt zur Auswahl bestimmter Stämme.24 Man lebte also generationenlang in Forschungsillusionen.
Louis Pasteur hatte beobachtet, dass Gärungen von bestimmten Einzellern vollzogen werden, die man auch prompt nach diesen Gärungen benannte. Man dachte sich eine einfach Ursache-Folge-Kette. Milchsäurebakterien bewirken die Milchsäuregärung, Essigsäurebakterien die Essigsäuregärung und so fort. Es lag nahe, daraus zu schließen, dass auch »Krankheitsbakterien« die jeweils passende Krankheit »machen«. Man müsste, so glaubte man, dazu nur die jeweils zugehörige Mikrobe identifizieren.
Bei einer Reinkultur werden im Labor Bakterien so angezüchtet, dass aus einer Mischkultur schließlich die einzelnen, darin vorkommenden Bakterien jeweils vereinzelt als Monokultur auf jeweiligen Platten als Kolonien wachsen. Diese lassen sich unter geeigneten Bedingungen beliebig lang weiter vermehren. Robert Koch beispielsweise experimentierte mit Reinkulturen von Tuberkelbakterien, die er bis zu neun Jahren im Labor fortgezüchtet hatte.25 Derart gewonnene bakterielle Reinkulturen dienten und dienen bis heute für anschließende Tierversuche.
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