Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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(mor. 841f) das Verb im Kontext eines Gesetzes, das vorsah, (autorisierte) AbschriftenAbschrift der TragödienTragödie von AischylosAischylos, SophoklesSophokles und Euripides aufzubewahren, damit die Stadtschreiber diese konsultieren können, um eine Abweichung der Aufführung vom Original zu verhindern (… καὶ τὰς τραγῳδίας αὐτῶν ἐν κοινῷ γραψαμένους φυλάττειν καὶ τὸν τῆς πόλεως γραμματέα παραναγινώσκειν τοῖς ὑποκρινομένοις: οὐκ ἐξεῖναι γὰρ παρ᾽ αὐτὰς ὑποκρίνεσθαι).

      Das v. a. von PlutarchPlutarch verwendete Verb συναναγιγνώσκωσυναναγιγνώσκω (mitlesen) kennzeichnet das gemeinsame Lesen (aus) einer Schrift.

      Vgl. v. a. die aufschlussreiche Szene, die eindeutig kollektiv-direkteLektürekollektiv-direkt Rezeption belegt, bei Plut.Plutarch de Alex. fort. 1,11 (mor. 332e333a), in der Alexander nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend einen BriefBrief seiner Mutter liest und dabei merkt, dass Hephaistos über seiner Schulter mitliest. Vgl. auch Plut. de Alex. fort. 2,7 (mor. 340a); reg. et. imp. 27,14 (mor. 180d); ferner de Amic. 11 (mor. 97a) sowie den Verweis auf die Gemeinschaftslektüre von Schriften Platons (ἐν ταῖς Πλατωνικαῖς συναναγνώσεσιν …) in symp. 7,2 (mor. 700c).5 Vgl. außerdem den Verweis auf das gemeinsame Lesen eines Werkes von Hippokrates bei Gal.Galenos Hipp.Hippolytos von Rom fract., ed. KÜHN, 18b, p. 321. PASSOW, 1668, führt noch weitere, allerdings sehr späte Belege an. Interessant ist ferner ein Fragment aus dem Werk von Johannes von Antiochia, der das PartizipPartizip im Sinne von „Mitstudenten“, d. h. Kommilitonen verwendet. Vgl. Iohan. Ant., fr. 218. Dazu passt, dass Marinus von Neapolis sich im 5. Jh. beklagt, er habe es innerhalb von zwei Jahren nicht geschafft, Aristotelesschriften gemeinsam zu lesen: Ἐν ἔτεσι γοῦν οὔτε δύο ὅλοις πάσας αὐτῷ τὰς Ἀριστοτέλους συνανέγνω πραγματείας, λογικάς, ἠθικάς, πολιτικάς, φυσικάς, καὶ τὴν ὑπὲρ ταύτας θεολογικὴν ἐπιστήμην. (Marin.Marinos von Neapolis v. Proc. 13) Dies klingt nach einer Art Philosophenkolloquium, bei dem gemeinsam Aristotelesschriften gelesen und diskutiert wurden.

      Προαναγιγνώσκωπροαναγιγνώσκω bedeutet einerseits vorlesen (to read [ahead] in a loud voice),6 wird aber andererseits auch häufig im temporalen Sinne verwendet, um anzuzeigen, dass jemand zuvor/zuerst ein Schriftstück/ein Werk etc. (individuell[!]) gelesen hat.7

      Ἐπαναγιγνώσκωἐπαναγιγνώσκω wird genutzt, um das Verlesen, das Lesen aus etwas zu benennen.8 Daneben kann das Verb anzeigen, dass jemand einen Text in voller Länge gelesen hat.9

      3.1.3 Ἀναγνωστικός

      Das selten bezeugte Adjektiv ἀναγνωστικόςἀναγνωστικός hat nach LSJ die folgenden Bedeutungsnuancen: a) capable of reading, a good reader (Epikt.Epiktet diatr. 2,18,2: lesefähigLese-fähigkeit (s. auch Literalität), gut im Lesen);1 b) fond of reading (Plut.Plutarch de garr. 22 [mor. 514a]: das substantivisch gebrauchte Adjektiv verweist bei Plutarch auf jemanden, der viel und gerne liest, also eine Leseratte, der in diesem Fall Geschichten, narrative Texte [ἱστορίαι] liest); c) suitable for reading (Aristot.Aristoteles rhet. 3,12,2 [1413b12]: zum Lesen geeignet). Während die ersten beiden Belege recht eindeutig sind, hat D. J. Allan gezeigt, dass die Interpretation der ἀναγνωστικοί bei Aristoteles im Sinne von „Dichter, die zum Lesen geeignet sind“2, also deren Texte gut aussprechbar wären (λεκτικός), aus philologischer Sicht falsch ist. Vielmehr spreche Aristoteles ganz im Sinne der beiden anderen Stellen davon, dass AutorenAutor/Verfasser, die selbst gute LeserLeser oder Vielleser sind, populär seien, weil sie leserorientiert schreibenSchreiben, wobei an dieser Stelle offen bleibe, ob Aristoteles auf kollektive oder individuelle Formen der Rezeption abzielt.3

      Einen gut lesbaren Text beschreibt Aristoteles hingegen mit dem Adjektiv εὐανάγνωστοςεὐανάγνωστος (Aristot.Aristoteles rhet. 3,5,6 [1407b12]). Ein gut lesbarer Text ist nach der weiteren Spezifikation an dieser Stelle ein solcher, der gut erfassbar (εὔφραστος)4 ist, Konjunktionen (σύνδεσμοι) sparsam verwendet, der leicht punktiert (διαστίζω) werden kann und wenig Ambiguität in den Bezügen aufweist.5 Es geht ihm hier also stärker um das kognitivekognitiv Erfassen als um die lautliche Realisierung. Das Adjektiv εὐανάγνωστος kommt außerdem bei Demetr. eloc.Demetrios von Phaleron 4,193 vor. Hier legt der Kontext – die Gegenüberstellung von Stilen (λέξεις), die sich entweder besser zum Aufführen (ὑποκρίνομαι) oder zum Lesen (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω) eignen – eine der Aristotelesstelle analoge Verwendung des Lexems nahe. Als Beispiele führt Demetrios an, Menander sei besser für die Aufführung geeignet, Philemon besser für die Lektüre. Die Ausführungen von Demetrios gleichen im Übrigen denjenigen von Aristoteles (Aristot. poet. 1462a101462b5), die unten noch zu diskutieren sind. Ferner wird dieses Lexem von Konstantin in seinem BriefBrief an Euseb verwendet, in dem er den Auftrag zur Beschaffung von Bibelausgaben gibt, um die Beschaffenheit der Schrift der PergamentkodizesKodex zu beschreiben (vgl. Eus.Eusebios von Caesarea vita Const. 4,36,2).

      3.1.4 Ἀνάγνωσις

      Das entsprechende Verbalabstraktum ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις verweist aus morphologisch-semantischer Sicht (Suffix -σις) auf den Prozess bzw. den Vorgang des Lesens.1 Die genaue Bedeutung dieses Lexems ist jedoch nicht in jedem Fall klar. So fragt D. J. Allan im Hinblick auf Aristot.Aristoteles rhet. 3,12,5