Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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Vor diesem Hintergrund erscheint es dann auch sicher, dass ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις in der folgenden Passage in TheonsTheon Progymnasmata nicht das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt meint, sondern vielmehr die Wichtigkeit von individueller Lektüre von mythischen Erzählungen im Rahmen der rhetorischen Vorbildung hervorhebt.14

      „‚Die Lektüre aber‘, wie einer der Älteren sagt – Apollonius von RhodosApollonius von Rhodos meine ich – ‚ist die Nahrung des Stils/der Ausdrucksweise (τροφὴ λέξεώς ἐστι)‘. Denn wir formen die Geistesfähigkeit von den schönen Beispielen her (τυπούμενοι γὰρ τὴν ψυχὴνψυχή ἀπὸ καλῶν παραδειγμάτων) und die schönsten werden wir auch imitieren.“ (Theon prog. p. 61,28–31 [Ed. SPENGEL])

      Diese Stelle ist mindestens in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: a) Theon grenzt die ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις analog zu den oben diskutierten Quellen von der ἀκρόασις ab, wobei letztere hier aber nicht ein akustisches Aufnehmen, sondern den mündlichen Vortrag im Unterrichtskontext meint.15 b) Die Perzeption des Gelesenen wird nicht mit dem Gehör, sondern mit der Seele, also mit einer Instanz, die man eher dem Inneren des Menschen zuordnen würde, in Verbindung gebracht, aus der sich wiederum das Ausdrucksvermögen (vor allem auch in schriftlich produktionsorientierter Form16) speist. Ferner ist wohl auch der bei Diogenes Laertios überlieferte TitelTitel einer Schrift von Thrasylos (Τὰ πρὸ τῆς ἀναγνώσεως τῶν Δημοκρίτου βιβλίων; Diog. Laert.Diogenes Laertios 9,41) nicht auf eine Vorlesung bezogen. KaiserKaiser/Princeps Iulian schreibt in einem BriefBrief an Libanios (Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 53 [382d]), er habe dessen RedeRede vor dem Mittagessen fast ganz gelesen (individuell-direktLektüreindividuell-direkt!), konnte seine Lektüre (ἀνάγνωσις) aber erst danach, aber noch vor dem Mittagsschlaf, beenden. Darüber hinaus verweist häufig auch die Formulierung τὴν ἀνάγνωσιν ποιέω („ich betreibe die Lektüre“) auf individuell-direkte Lektüre.17

      Daneben existieren aber auch Kontexte, in denen ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις eindeutig im Sinne von „(Vor-)Lesung“ verwendet wird.18 Ἀνάγνωσις wird sodann bei den antiken Grammatikern spezifisch als gleichsam phonologischerPhonologie Fachterminus betreffs der Prosodie verwendet.19 Daher und vor allem angesichts des gerade besprochenen, eindeutigen Befundes sollte man auch die dionysische Erläuterung des ersten von sechs Teilen der Grammatik – ἀνάγνωσίς ἐστι ποιημάτων ἢ συγγραμμάτωνσυγγράμματα ἀδιάπωτος προφορά (Dion. ThraxDionysios Thrax 2) – nicht als allgemeingültige Definition des Lexems bzw. als Beschreibung des Leseaktes generalisieren.20 „In conclusion we may say that the usual interpretation of Dionysian ἀνάγινωσις, according to which this notion meant for Dionysius the act of reading by the use of one’s own voice (thus also Pfeiffer 1968: 268f), is mistaken.“21 Die als ἀνάγνωσις bezeichnete Domäne der alexandrinischen Grammatik beschäftigt sich mit der fehlerfreien Aussprache (ἀδιάπωτος προφορά) bzw. dem den verschiedenen Gattungen angemessenen Ton (vgl. Dion. Thrax 2); „ἀνάγνωσις ἐντριβὴς κατὰ προςῳδίαν [Dion. Thrax 1] refers to the determination of the correct accent of a word.“22

      3.1.5 Ἀνάγνωσμα

      Das viel seltener vorkommende Lexem ἀνάγνωσμαἀνάγνωσμα müsste aus morphologisch-semantischer Sicht demgegenüber eigentlich das Ergebnis oder Resultat einer Handlung bezeichnen,1 wobei die Grenzen zwischen diesen nomina rei actae und den o. g. Verbalabstrakta (nomina actionis) in den Grammatiken jedoch als fließend bezeichnet werden.2 Neben wenigen Belegen, die eine gleichsam synonyme Verwendung mit ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις im Sinne einer Vorlesung aufweisen,3 zeigt sich in den Quellen, dass das Lexem, ganz ähnlich wie der Lektüre-Begriff im Deutschen, in seiner Bedeutung changiert. Dies zeigt sich ganz deutlich in Plutarchs Schrift Quomodo adolescens poetas audire debeat (poet. aud. 14 [mor. 35f]), in der er u. a. die Lehren Platons und Pythagoras’ Jugendlektüren (παιδικά ἀναγνώσματα) gegenüberstellt. Die παιδικά ἀναγνώσματα sind hier sowohl ein Sammelbezeichnung für die schulische Lektürepraxis als auch eine Bezeichnung für die LesestoffeLese-stoff selbst.4 Ähnlich ambigue gebraucht wird ἀνάγνωσμα, wenn PlutarchPlutarch die Kultivierung Asiens u. a. daran festmacht, dass Homer zur Lektüre wurde.5 Das Lexem ἀνάγνωσμα kann aber ebenso eindeutig in einem potentiellen Sinne, also zur Bezeichnung einer Lektüre gebraucht werden, die sich konkret materiellMaterialität in einem BuchBuch manifestiert. So wird z.B. bei Plutarch AkesandersAkesander Schrift Περὶ Λιβύης als eher ungewöhnliche, nicht gebräuchliche Lektüre charakterisiert: καὶ τοῦτο μέν’ ἔφην ‘τὸ ἀνάγνωσμα τῶν οὐκ ἐν μέσῳ ἐστί (Plut. symp. 5,2 [mor. 675b]).6 Die Wendung ἀναγνώσμασιν ἐντυγχάνειν (begegnen, d. h. lesen von Lektüren [s.u.]) an einer anderen Stelle (Plut. symp. 5,3,2 [mor. 676c]) hat dagegen eher eine resultative Bedeutung, da dadurch im Kontext die herausragende Belesenheit eines Redners hervorgehoben wird.7 Analog formuliert Nikomachos von Gerasa in seiner Einführung in die Arithmetik:

      „Dies also über die drei Proportionen, die bei den Alten ständig behandelt werden (θρυλλουμένων), die wir auch ausreichend klar und breit ausgeführt haben, weil man ihnen oft und vielfältig in den Lektüren (ἐν τοῖς ἀναγνώσμασι) begegnet (ἐντυγχάνεινἐντυγχάνω)“ (Nikom.Nikomachos von Gerasa Ar. 2,28,1).

      3.1.6 Ἀναγνώστης

      Zuletzt muss auch noch das ebenfalls zur gleichen Wortfamilie wie ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω gehörende Lexem ἀναγνώστηςἀναγνώστης untersucht werden. Der LSJ gibt als Hauptbedeutungen reader und slave trained to read mit Verweis auf vier Quellen und als Nebenbedeutung secretary mit Verweis auf einige InschriftenInschriften an. Das englische Lexem reader lässt freilich offen, ob ein VorleserVorleser oder allgemein der RezipientRezipient von Texten im Blick ist. Die erste Quelle, die im LSJ für die Hauptbedeutung angeführt wird, ist eine Notiz in einem BriefBrief von CiceroCicero, Marcus Tullius an Atticus, dem er berichtet, dass ihn der Tod eines SklavenSklave mit dem Namen Sositheus emotional belaste, dessen Funktion er mit dem griechischen Lehnwort anagnostes bezeichnet (Cic. Att. 12,4). Was der genaue Aufgabenbereich dieses Sklaven war, geht aus der Stelle selbst nicht hervor.1 Cornelius NeposNepos, Cornelius hebt hervor, dass unter den Sklaven des Atticus literarisch sehr gebildete Sklaven gewesen seien – und zwar anagnostae optimi et plurimi librarii (Corn. Nep. Att. 13,3). Diese Differenzierung könnte dahin gehend gedeutet werden, dass erstere eher für die Textrezeption,2 letztere für