Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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von ἀκούωἀκούω auf, er möge „unserer Schrift Aufmerksamkeit schenken“ (καὶ ἐπακοῦσαι τῶν συγγραμμάτωνσυγγράμματα ἡμῶν; Orig. Cels. 4,53).Aufmerksamkeitvertieft

      Einen außergewöhnlichen Einblick in die antike Selbstwahrnehmung der kognitivenkognitiv Verarbeitung von Gelesenem, der die oben stehenden Quellenzeugnisse einzuordnen hilft, gewährt uns der AutorAutor/Verfasser der Schrift Περὶ ὕψους („Über das Erhabene“), die vermutlich ins 1. Jh. n. Chr. zu datieren ist.15 Im Kontext der Diskussion um die Qualität von Literatur (Ps.-Long.Pseudo-Longinos 7,1–3) verwendet er ἀκούωἀκούω als LeseterminusLese-terminus, und zwar für die Benennung von MehrfachlektüreLektüreMehrfach- (Ps.-Long.Longinos 7,3). Bei der beschriebenen Lektüre handelt es sich um eine prüfende, die mit dem Adjektiv visuellervisuell Wahrnehmung ἐπισκεπτέος sowie mit den Verben ἀναπτύσσωἀναπτύσσω und εὑρίσκωεὑρίσκω im Kontext (Ps.-Long 7,1) näher spezifiziert wird.16 Aufschlussreich ist nun, dass der an dieser Stelle vorgestellte LeserLeser nicht mit dem OhrOhr hört, sondern vielmehr die ψυχήψυχή explizit als Subjekt des Hörens gekennzeichnet wird (Ps.-Long. 7,2; impliziert auch in 7,3). Das Gelesene wird mit der διάνοιαδιάνοια weiterverarbeitet,17 wobei Literatur minderer Qualität dieser „nicht mehr zum Betrachten (ἀναθεωρέω) zurücklässt als den bloßen Wortlaut“ (Ps.-Long. 7,3; Üb. angelehnt an SCHÖNBERGER), qualitätsvolle Literatur demgegenüber zu ausgiebiger Reflexion (οὗ πολλὴ μὲν ἡ ἀναθεώρησις; Ps.-Long. 7,3) und damit auch zu erneuter analysierender und reflektierender Lektüre anregt, die durchaus auch mit Unterbrechungen für die kognitiven Weiterverarbeitungsprozesse zu denken ist.18

      Das bisher Gesagte lässt vermuten, ἀκούωἀκούω werde in Lesezusammenhängen häufig nur noch usuell gebraucht.19 Diese Schlussfolgerung lässt sich weiter erhärten: Ein eindrückliches Indiz für einen solchen usuellen Gebrauch findet sich bei Diog. Laert.Diogenes Laertios 2,5,18, der mit einem verbum dicendiverba dicendi (im Sinne von „schriftlich mitteilen“) auf Plat.Platon Tht. 149a verweist: „Sokrates war der Sohn des Steinmetzes Sophroniskos und von der Hebamme Phaenarete, wie auch Platon [in Form der Dialogfigur Sokrates!] im Theaitetos sagt (ὡς καὶ Πλάτων ἐν Θεαιτήτῳ φησίν).“ Es ist hier völlig eindeutig, dass Platon eben nicht selber gesprochen hat, sondern Sokrates hat sprechen lassen.20 Auch wenn Demetrios von PhaleronDemetrios von Phaleron schreibt, ThukydidesThukydides erlaube durch die Form der KompositionKomposition weder sich noch dem RezipientenRezipient eine Pause (καὶ ἐκ τοῦ μόγις ἀναπαῦσαι αὐτόν τε καὶ τὸν ἀκούοντα; Demetr. eloc. 2,45), könnte hier gut der individuelle LeserLeser im Blick sein – ein Urteil, das auch der Übersetzter W. R. Roberts gefällt hat, der das PartizipPartizip mit reader wiedergibt.21 Galen zitiert in seiner 2005 wiederentdeckten Schrift „Über die Unverdrossenheit“ Euripides und leitet das ZitatZitat für seinen Leser folgendermaßen ein: „Was Euripides irgendwo dem Theseus in den Mund legt, ist vor allem wahr, wie du erkennen wirst, wenn Du die Worte hörst (ἀκούσας δὲ τῶν ἐπῶν εἴσει)… [Es folgt das Zitat: Eur.Euripides fr. 964 Nauck]“ (Gal.Galenos alyp. 52; Üb. angelehnt an BRODERSEN).

      Als stärkste Evidenz für einen usuellen Gebrauch von ἀκούωἀκούω als LeseterminusLese-terminus ist auf die bei den antiken Schriftstellern verbreitete Praxis zu verweisen, ihre Quellen mit der Phrase ἤκουσα xy(Gen.) λέγοντος anzugeben bzw. ZitateZitat einzuleiten.22 Dabei sei am Rande auf das analoge Phänomen verwiesen, dass das Substantiv ἀκοή nicht nur das OhrOhr, sondern auch abstrakt die Information oder TraditionTradition bezeichnen kann.23 D. M. Schenkeveld hat eindrücklich gezeigt, dass die Wiedergabe einer LesefruchtLese-frucht mit „gehört haben, dass xy gesagt hat …“ ausgedrückt wird, während im Lateinischen die Phrase legere apud xy aliquid gängig ist.24 Für die auch im Griechischen erwartbare Phrase „in xy gelesen haben, dass …“, die mit dem Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω gebildet wird, sei der Befund hingegen weitgehend, jedoch nicht gänzlich negativ.25 Seine Liste von Ausnahmen kann allerdings noch ergänzt werden:

      Diod.Diodorus Siculus 14,47,2: „darin [in einem SchreibenSchreiben von Dionysios, Tyrann von Syrakus] war zu lesen, … (ἧς ἀναγνωσθείσης ἔν …)“; Plut.Plutarch symp. 3,7,2 [mor. 656a]; Plut. symp. 8,4,3 [mor. 724a]: „Und doch habe ich, wie ich mich zu erinnernErinnerung glaube, neulich in der attischen Geschichte gelesen [ἐν τοῖς Ἀττικοῖς ἀνεγνωκὼς], daß …“ (Üb. OSIANDER/SCHWAB); Plut. Alex. 4: … ἀνέγνωμεν ἐν ὑπομνήμασιν Ἀριστοξενείοις; Plut. Adv. col. 14 (mor. 1115d): ἡμεῖς γὰρ ἐν πᾶσιν ἀναγινώσκομεν …; Iust.Iunianus Iustinus Mart.Justin der Märtyrer dial. 11,2: Νυνὶ δὲ ἀνέγνων γάρ, ὦ Τρύφων, ὅτι … (ZitatmarkierungZitat-einleitung/-markierung); 11,3: Ἢ σὺ ταῦτα οὐκ ἀνέγνως ἅ φησιν Ἠσαίας … (Zitatmarkierung); 10,3: Ἢ οὐκ ἀνέγνως ὅτι … (Zitatmarkierung); TestDan 5,6: ἀνέγνων γὰρ ἐν βίβλῳ Ἑνώχ τοῦ δικαίου ὅτι …; TestNaph 4,1: … ἀνέγνων ἐν γραφῇ ἁγίᾳ Ἑνὼχ ὅτι …; TestAss 7,5: ἀνέγνων γὰρ ἐν ταῖς πλαξὶ τῶν οὐρανῶν ὅτι …; Gebet des Joseph Fr. B: ‘Ἀνέγνων γὰρ ἐν ταῖς πλαξὶ τοῦ οὐρανοῦ … (Eus.Eusebios von Caesarea pr. ev. 6,11,64); siehe zu diesem Text weiterführend