Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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u. ö.22

      Die aufgeführten Stellen belegen eindeutig, dass der (intendierte) RezipientRezipient eines Textes im Blick ist,23 da z.B. sein emotionales Empfinden oder sein Urteil adressiertAdressat bzw. er direkt als Rezipient angesprochen wird – und es sich dabei nicht um Vorlese- oder Regieanweisungen handelt. Diese Verwendungsweise von lectorLektor in lateinischen Quellen ist für das Lexem ἀναγνώστηςἀναγνώστης im Griechischen gerade nicht belegt; für analoge pragmatischePragmatik Zwecke werden in den griechischen Texten v. a. substantivierte Partizipien von ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω (s. o.) und ἐντυγχάνωἐντυγχάνω (s. u.) genutzt. Am nächsten an die besprochene Verwendungsweise des Lexems lectorlector kommt noch die diskutierte Stelle (Vit. Arist. Marc. 42–44), an der Aristoteles als Vielleser charakterisiert wird – hier unterscheidet sich jedoch der Kommunikationszusammenhang, da hier die Außenwahrnehmung auf Aristoteles dokumentiert ist, und nicht die Kommunikation zwischen AutorAutor/Verfasser/Text und LeserLeser.

      3.2 Lesen als Hören

      Auf das Phänomen „Lesen“ wird im Griechischen jedoch vielfach auch mit dem Lexem ἀκούωἀκούω (Grundbedeutung: hören) verwiesen.1 Als Terminus zur Rezeption von Geschriebenem wird das Verb zur Kennzeichnung der hörenden Rezeption eines vorgelesenen Textes2 oder einer RedeRede/eines Vortrages3 verwendet. Aber für zahlreiche Belegstellen kann die Rezeptionssituation (jemand liest jemandem vor) nicht a priori vorausgesetzt werden;4 genauso wenig kann daraus geschlossen werden, dass in der Antike grundsätzlich vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend gelesen wurde,5 wie zu zeigen sein wird. So lässt Platon den Phaidros in seinem Dialog mit Sokrates abfällig über einen Menschen sprechen, der sich für einen ArztArzt hielte, „weil er aus irgendeinem BuchBuch hörte/in einem Buch las6 (ἐκ βιβλίου ποθὲν ἀκούσας)“ (Plat.Platon Phaidr. 268c). Hier ist es nicht eindeutig zu entscheiden, ob an eine Vorlesesituation oder an individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre gedacht ist.7 Letzteres ist zumindest sehr gut vorstellbar angesichts der Quellenevidenz im Folgenden. Das gilt im Übrigen auch für die analoge Verwendung von audire im Lateinischen.8

      Eine eindrückliche Belegstelle findet sich bei Herodot, an der eindeutig eine Szene individualisierten Lesens voraussetzt wird (Hdt.Herodot 1,48). Ob vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend oder nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend kann aus dem Text heraus nicht eindeutig entschieden werden:9 Im Kontext einer Probe der griechischen Orakel durch den Lyderkönig Kroisos erhält dieser die schriftlich fixierten Orakelsprüche in Form von RollenRolle (scroll) (ἀναπτύσσωἀναπτύσσω), die er einzeln inspiziert (ἐποράω), wobei ihm bis auf einen keiner der Sprüche gefällt. „Aber als er die Antwort aus Delphi hörte (ὡς τὸ ἐκ Δελφῶν ἤκουσε), verehrte er sie unverzüglich und akzeptierte sie“ (Hdt. 1,48,1). Analog wird ἀκούωἀκούω auch in Hdt. 1,125,1 als LeseterminusLese-terminus verwendet. An dieser Stelle ist aus dem Kontext eindeutig zu erschließen, dass die BuchstabenBuch-stabe zum LeserLeser sprechen (τὰ δὲ γράμματαγράμματα ἔλεγε; Hdt. 1,124,1).10 Eine ebenfalls eindeutige individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LeseszeneLese-szene, im Rahmen derer ἀκούω als Leseterminus gebraucht wird, findet sich in Heliodors Aithiopika: Der Ich-ErzählerErzähler Theagenes liest den äthiopischen Text auf einem Band (ταινία; vgl. Hld.Heliodoros 4,8,1), das der ausgesetzten Chariklea beigegeben worden war (vgl. Hld. 4,7), und hört den Namen ihrer Mutter Persina: Ἐπάγην, ὦ Κνήμων, ὡς τοῦ Περσίννης ὀνόματος ἤκουσα (Hld. 4,8,2). Aus dem Kontext kann man erschließen, dass der Ich-Erzähler die StimmeStimme des Textes hört; als Lesetermini werden Lexeme (ἐπέρχομαι, εὑρίσκωεὑρίσκω) verwendet, die eher darauf hindeuten, dass nicht-vokalisierende Lektüre zu imaginieren ist: „Beim Begehen fand ich die Schrift Folgendes erzählend … (καὶ ἐπερχόμενος τοιάδε ηὕρισκον τὸ γράμμαγράμμα διηγούμενον … Hld. 4,8,1). Bei Isokrates (or. 12,252) findet sich die Aussage, dass viele die von ihm aufgeschriebenen Taten und Schlachten lesen und durchgehen wollten (πολλοὺς ποθεῖν ἀναγνῶναι καὶ διελθεῖν αὐτάς), nicht weil sie die Taten an sich hören wollen (ἀκοῦσαι πράξεις), sondern weil sie lernenLernen (μανθάνωμανθάνω) wollten, wie Isokrates diese bewertet bzw. darstellt.11 Die Kombination aus ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und διέρχομαιδιέρχομαι zeigt, dass hier keine Vortragssituation, sondern eine Form individuell-direkter und intensiver Lektüre im Blick ist. Es ist daher m. E. auch wahrscheinlicher, dass ἀκούω hier nicht das tatsächliche Hören des mit der eigenen Stimme vorgelesenen Textes meint, sondern die kognitivekognitiv Verarbeitung des Gelesenen benennt.

      In Plutarchs Schrift De facie in orbe lunae formuliert Lamprias gerichtet an einen der Gesprächsteilnehmer, Theon:

      „Weil du aber nun den Aristarch schätzt und bewunderst, gibst du dem Krates kein Gehör, wenn er liest (οὐκ ἀκούειςἀκούω Κράτητος ἀναγινώσκοντοςἀναγιγνώσκω): ‚Vater Okeanos, welcher den Ursprung Allem gegeben [Hom.Homer Il. 14,246], Menschen und Göttern, der weit sich ausstreckt über die Erde,‘“ (Plut.Plutarch de fac. 25 [mor. 938d]; Üb. OSIANDER/SCHWAB).

      Es handelt sich bei dieser Schrift um ein Gespräch, das aus der Perspektive von Plutarchs Großvater, Lamprias, geschildert wird und dessen erzählte Zeit in die zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr. fällt. Die Formulierung von Lamprias verweist auf die konkurrierende Homer-Interpretation des stoischen Grammatikers Krates von Pergamon und dem Alexandriner Aristarch im 2. Jh. v. Chr. Daraus wird unmittelbar ersichtlich, dass Krates hier nicht selbst liest, sondern Lamprias sich auf den Homertext von Krates bezieht. Denn die erste Hälfte des Zitats ist ein ZitatZitat aus der Ilias, die zweite Hälfte stellt eine Emendation im Ilias-Text von Krates dar, die bei Aristarch fehlt.12 Das Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω wird hier also im Sinne des modernen textkritischenTextkritik Lesebegriffes gebraucht,13 das Verb ἀκούωἀκούω bezieht sich darauf, dass Theon sich nicht mit der Interpretation bzw. dem Ilias-Text des Krates beschäftigt, also dessen Ilias-Text bzw. dessen Schriften nicht liest.

      Exemplarisch sei auch noch auf OrigenesOrigenes verwiesen, der ἀκούωἀκούω in seiner Apologie gegen Celsus im Sinne von „lesen“/„rezipieren“ verwendet:

      „Dennoch wünschte ich mir, dass jeder, der die dreiste