Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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von Leukippe vorbeigeht, späht er zu ihr hinüber, indem er nur die AugenAugen hebt (τὸν δὲ ὀφθαλμόν … ὑπείλιττον κάτωθεν). Dies impliziert, dass Kleitophon heimlich zu ihr hinüberspät, also der Leseprozess aus der Außenperspektive allein an seiner HaltungHaltung erkannbar sein muss. Damit ist deutlich, dass Kleitophon auf der Ebene der erzählten Welt des Romans nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend liest, da die Konstellation sonst wenig Sinn machen würde: Beim Heben der Augen wäre es Kleitophon ja nicht möglich gewesen, den Text weiter lautlich zu realisieren, und ein abruptes Abbrechen der Vokalisation hätte Leukippes Aufmerksamkeit auf Kleitphon gezogen. Der in sein Buch/seine SchriftrolleRolle (scroll) vertiefteAufmerksamkeitvertieft Kleitophon ist unverdächtig und unauffällig.

      In der Forschungsliteratur findet sich die These, dass die hier bei Achilleus Tatios erzählte Rezeptionshaltung durchaus selbstreferenziellselbstreferenziell verstanden werden kann,14 Romane also zur individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre gedacht waren, die Frage nach der sozialen Stellung der intendierten und tatsächlichen Leserschaft antiker Romane ist hingegen umstritten.15

      Analog zu ἐγκύπτωἐγκύπτω kann im Lateinischen das wurzelverwandte16 Verb incumboincumbo verwendet werden, wie eine Stelle bei TertullianTertullianus, Quintus Septimius Florens zeigt, an der er im Kontext der Thematisierung der geistlichen Dimension einer keuschen Lebensführung das Lesen der Heiligen Schrift thematisiert: „Wenn er [scil. der Mensch] sich in die Schrift hineinbeugt, ist er ganz in jener“ (si scripturisscriptura incumbit, totus illic est, Tert. exhort. cast. 10,2). Es ist aufschlussreich, dass Tertullian hier allgemein vom Menschen redet, der in die Schrift vertieftAufmerksamkeitvertieft ist. Damit setzt er eine generelle (allerdings nicht näher zu quantifizierende) Praxis der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre der Schrift voraus.

      Die konzeptuelle MetapherMetapher BEWEGUNG IST LESENBEWEGUNG kommt aber z.B. auch in folgenden Formulierungen zum Ausdruck: „Einige junge Leute, die erst seit kurzem regelmäßig zu den alten Worten [scil. Schriften der alten PhilosophenPhilosophie] gehen, tadelten Epikur …“ (Νεανίσκοι τινὲς οὐ πάλαι τοῖς παλαιοῖς λόγοις προσπεφοιτηκότες ἐσπάραττον τὸν Ἐπίκουρον … Plut.Plutarch symp. 3,6,1 [mor. 653b]);17 „damit die LeserLeser mitgenommen werden (συμπεριφέρεσθαισυμπεριφέρεσθαι)“ (Polyb.Polybios 3,34,3). Äquivalent finden sich in den Quellen auch Formulierungen, die zeigen, dass das Konzept auch aus der Autorenperspektive verwendet werden konnte. So formuliert z.B. JosephusJosephus, Flavius leserlenkendLeserlenkung im Hinblick auf die KompositionKomposition seines BuchesBuch, er werde das „was aber vor meiner Zeit geschah, auf kurzem Wege durcheilen (ἐπιτρέχω)“ (Ios. bell. Iud. 1 prooem. 6 [18]).

      Das metaphorischeMetapher Konzept BEWEGUNG IST LESENBEWEGUNG findet sich auch in lateinischen Quellen und ist z.B. impliziert in einer Aussage der praefatio des vierten Buches von LiviusLivius, Titus’ Geschichtswerk, dass er nicht daran zweifle, „daß den meisten Lesern (legentium) die ersten Anfänge […] weniger Freude machen wird, da sie es eilig haben (festinantibus), zu unserer Neuzeit zu kommen“ (Liv. 4 praef.; Üb. PAUSCH). Diese Aussage ist deshalb interessant, da der AutorAutor/Verfasser hier im Hinblick auf eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt LesesituationLese-situation antizipiert, dass seine LeserLeser den Text nicht gleichbleibend sequentiellKontinuitätsequentiell entlang des Textes lesen, wobei allerdings nicht sicher zu entscheiden ist, „ob mit festinare hier eine in höherer GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit erfolgende, aber vollständigeUmfangvollständig Lektüre oder eine selektiveUmfangselektiv Form der Rezeption, in der auch Teile vom Leser ausgelassen werden können, gemeint ist.“18 Eindeutiger mit selektiven Zugriffen verknüpft ist das Konzept BEWEGUNG IST LESEN dagegen bei Martial, der mehrfach „die Verben transiretransire und praetirepraetire [verwendet], um damit zu beschreiben, wie Leser ein oder mehrere Gedichte nicht beachten bzw. ‚übergehen‘.“19 Diese beiden Verben müssten im Hinblick auf das Konzept BEWEGUNG IST LESEN weiterführend untersucht werden. Dies kann im Rahmen dieser Studie jedoch nicht geleistet werden.

      Weil er eine detaillierte Einsicht in LesepraktikenLese-praxis in der Antike bietet, ist jedoch im Folgenden noch der ausführliche Rat Senecas zur Lektüretätigkeit und -auswahl zu besprechen, den er LuciliusLucilius in einem seiner Briefe gibt:

      „2 Gib aber darauf acht, daß Deine Lektüre vieler AutorenAutor/Verfasser und aller möglichen Werke nicht eine gewisse Oberflächlichkeit und Unbeständigkeit mit sich bringt (ne ista lectiolectio auctorum multorum et omnis generis voluminumvolumen habeat aliquid vagum et instabile)! Man muß sich an bestimmte große Geister halten und an ihnen wachsen, wenn man etwas gewinnen will, das tief im Herzen Wurzel schlägt. Nirgends ist, wer überall ist. So ergeht es Leuten, die ihr Leben auf ReisenReise verbringen: Sie sind viel zu Gast, aber niemands Freund. Und dasselbe muß unweigerlich denen widerfahren, die sich nicht vertrauensvoll an einem der Großen orientieren, sondern durch alles hastig und schnellLese-geschwindigkeit hindurcheilen (sed omnia cursim et properantes transmittunttransmitto). 3 Eine Speise (cibus) ist nutzlos und schlägt nicht an, die man, kaum daß man sie zu sich genommen hat, wieder von sich gibt. Nichts verhindert so sehr die Genesung, als häufiger Wechsel der Heilmittel. Keine Wunde vernarbt, an der man Medikamente ausprobiert. Keine Pflanze gedeiht, die man häufig versetzt – kurz: Nichts ist so nützlich, daß es schon bei flüchtiger Berührung nützen könnte (ut in transitu prosit). Nur Verwirrung kommt aus einer Überzahl von Büchern (distringit librorum multitudo.). Da Du nicht alles zu lesen vermagst, was Du hast, genügt es, soviel zu haben, wie du lesen kannst (itaque cum legerelego non possis, quantum habueris, satis est habere, quantum legas). 4 ‚Aber‘, wendest Du ein, ‚ich möchte bald dieses BuchBuch auseinanderrollen (evolvoevolvo), bald jenes!‘ Es verrät einen übersättigten Magen, wenn man von vielem nur kostet (fastidientis stomachi est multa degustaredegusto). Sobald es viele verschiedene Speisen sind, machen sie nur Beschwerden und sind nicht nahrhaft. Lies also stets anerkannte Autoren, und wenn es Dich einmal lockt, Dich anderen zuzuwenden, dann kehre zur früheren Lektüre zurück (ad priores redi). Verschaffe Dir täglich ein wenig von dem, was Dir in der ArmutArmut oder beim Sterben helfen kann, desgleichen bei den übrigen Übeln. Und wenn Du durch vieles hindurchgerannt bist, greife Dir einen Satz heraus (o. exzerpiere einen Satz), den Du an diesem Tag weichkochst (et cum multa percurrenspercurro, unum excerpe, quod illo die concoquas). 5 Ich halte es selbst ebenso: Aus recht vielem, das ich lese, suche ich mir etwas zu eigen zu machen (ex pluribus, quae legi, aliquid adprehendo). Heute ist’s der folgende Satz, den ich zufällig bei Epikur gefunden habe – ich gehe (transeotranseo) nämlich gern auch einmal ins gegnerische Lager, nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter. ‚Ehrenwert‘, sagt Epikur, ‚ist heitere Armut.‘ (6) Doch es ist gar keine Armut, wenn sie heiter ist: Nicht, wer zu wenig hat, sondern wer zu viel begehrt, ist arm“ (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 2,2-6; Üb. FINK, mod. JH).

      Dieser BriefBrief gehört wohl zu den bildreichsten Reflexionen antiker LesepraxisLese-praxis, in denen verschiedene Bildfelder (u. a. BewegungBewegung/ReiseReise, Kontakt/Berührung, Krieg) interagieren, wobei aber die Bewegungs- und Speisemetaphorik dominieren. Die Quelle belegt idealtypisch zwei verschiedene Konzepte individuell-direkteLektüreindividuell-direktr