Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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der großen Menge seiner BücherBuch mit Ruhe und Muße durchzusehen (διασκοπῶν ἀπὸ τῶν ἐπιγραμμάτων ἀτρέμα τε καὶ σχολῇ. Alexis, Linus fr. 140: Athen.Athenaios deipn. 4,57 [164c]). Epikur verwendet in seinem BriefBrief an Herodot das Verb διαθρέωδιαθρέω (durchsehen), um das individuelle StudiumStudium seiner umfangreichen FachbücherBuchFach- zu bezeichnen, wenn er schreibt, er habe eine Epitome erstellt „für diejenigen […], die nicht alles genau erforschen (ἐξακριβόω) können, was ich über die NaturNatur geschriebenSchriftGeschriebenes habe, oder die längeren Bücher der Werke durchsehen zu können (μηδὲ τὰς μείζους τῶν συντεταγμένων βίβλους διαθρεῖν)“ (Diog. Laert.Diogenes Laertios 10,35).26

      PlutarchPlutarch kommt in seiner Biographie des spartanischen Feldherrn Lysandros auf ein Verschlüsselungssystem für schriftliche Botschaften in der Kommunikation mit Militärs zu sprechen – die sog. SkytaleSkytale (vgl. Plut. Lys.Lysias 19; s. auch Polyain.Polyainos strat. 7,19).27 Dabei kommen auf der Sender- und Empfängerseite zwei identische Rundhölzer zum Einsatz, um die herum ein PapyrusPapyrus- oder Lederstreifen gewickelt und mit einer Nachricht beschrieben wird. Die Nachricht auf dem Streifen wird ohne das Rundholz an den Empfänger geschickt.

      „Er nimmt also die bei ihm befindliche SkytaleSkytale und wickelt den Briefstreifen um sie, so dass, wenn nun die Wickelung in die gleiche Lage kommt, wie zuvor, das zweite an das erste schließt, das AugeAugen im Kreise herumführt und es so den Zusammenhang auffinden lässt (κύκλῳ τὴν ὄψιν ἐπάγειν τὸ συνεχὲς ἀνευρίσκουσαν)“ (Plut.Plutarch Lys.Lysias 19,7; Üb. ZIEGLER).

      Das Lesen der Botschaft ist hier eindeutig visuellvisuell konzeptualisiert, wie sprachlich-syntaktisch vor allem daran deutlich wird, dass der Blick (ὄψις) Hauptbeteiligter des Lesevorgangs ist, der wiederum als Auffinden des Zusammenhangs beschrieben wird (τὸ συνεχὲς ἀνευρίσκω).

      Interessant ist außerdem, dass der Herausgeber im PrologProlog der Oracula Sibyllina formuliert, er habe die vorher zusammenhangslosen Weissagungen als ein einheitliches und zusammenhängendes Ganzes herausgegeben, „damit sie für die Lesenden leicht einzusehen sind (ὡς ἂν εὐσύνοπτοι τοῖς ἀναγιγνώσκουσινἀναγιγνώσκω)“ (Sib. Prol.). Die Semantik des Adjektivs εὐσύνοπτος hat eine eindeutig visuellevisuell Konnotation. In Kombination mit der zuvor zu findenden MetapherMetapher ARBEIT IST LESEN (ἐκπονέω/πονέω) ist es eindeutig, dass der Herausgeber eine intensiveAufmerksamkeitvertieft individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre seiner Sammlung antizipiert.

      KaiserKaiser/Princeps Iulian formuliert in einem BriefBrief an den RhetorRedner Euagrios:

      „Tiefe Stille herrscht rings um den Ort, wenn du dich niederläßt, um in ein BuchBuch zu sehenSehen (ἡσυχία δὲ πολλὴ κατακλινομένῳ καὶ εἴς τι βιβλίονβιβλίον ἀφορῶντι). Willst du dazwischen einmal dein AugeAugen ausruhen lassen, so ist es überaus wohltuend, auf die Schiffe und das Meer hinauszuschauen“ (Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 25 [427b]; Üb. WEIS).

      Diese Stelle bietet zahlreiche interessante Einsichten im Hinblick auf LeseweiseLese-weise und LesesituationLese-situation. Iulian imaginiert eine Lesesituation auf einem Stückchen Land, das er Euagrios zum Geschenk macht, in der Euagrios draußen in der NaturNatur, im LiegenHaltungliegen (κατακλίνω) und in großer Stille (ἡσυχία δὲ πολλὴ) liest.28 Die Verwendung von ἀφοράω als LeseverbLese-terminus29 konzeptualisiert die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre eindeutig visuellvisuell und zeigt in Verbindung mit der Betonung der Stille, dass diese nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend vorzustellen ist. Der Verweis auf das Ausruhen der AugenAugen zeigt sodann ferner, dass es sich um eine längere Lektüresequenz handeln muss, welche die Augen anstrengt, sodass Erholungsunterbrechungen notwendig erscheinen.

      Ferner sei noch auf einen Eintrag im spätantiken, aber nicht eindeutig datierbaren Lexikon von Hesychios verwiesen, der einen γραμματεύςγραμματεύς definiert als „der LeserLeser; ein BuchstabenBuch-stabe gut Sehender (ὁ ἀναγνώστηςἀναγνώστης. γράμματαγράμματα εἰδὼς καλῶς)“ (Hesych.Hesychios 891). Angesichts des unter 3.1.6 besprochenen semantischen Befundes sollte man den Bedeutungsgehalt von ὁ ἀναγνώστης hier keinesfalls auf „der VorleserVorleser“ einengen. Bei einem γραμματεύςγραμματεύς handelt es sich in den Quellen ja eindeutig um jemanden der sowohl mit dem SchreibenSchreiben als auch mit der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Rezeption als auch mit dem VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt von Texten betraut ist.30 Entsprechend erklärt er das Verb γραμματεύειν mit den Verben γράφειν und ἀναγινώσκειν (Hesych. 890).

      Auch in der lateinischsprachigen Literatur finden sich zahlreiche Stellen, an denen Lesen visuellvisuell konzeptualisiert ist,31 sogar explizit die Reflexion, dass visuell orientiertes Lesen dem Zugang über das OhrOhr überlegen ist.32 Im Folgenden soll aber nur noch eine dieser Stellen exemplarisch besprochen werden. Seneca thematisiert in einem seiner Briefe an LuciliusLucilius den Unterschied zwischen der Rezeption eines Textes beim mündlichen Vortrag auf der einen Seite und dem Lesen eines Textes in schriftlicher Form:

      „und fast immer bereitet das, was im mündlichen Vortrag aufgrund seiner Lebendigkeit gefällt, weniger Vergnügen, wenn es schriftlich vorliegt; aber auch das ist schon viel, wenn die Lektüre auf den ersten Blick fesselt, auch wenn man beim genauen Hinsehen etwas findet, woran man Anstoß nehmen kann (Sed illud quoque multum est primo aspectu oculos occupasse, etiam si contemplatio diligens inventura est quod arguat)“ (Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 100,3, Üb. FINK).

      Die Lexeme aspectus und oculus zeigen eindeutig, dass das Lesen hier visuellvisuell konzeptualisiert ist und damit auch das Lesen (legolego) der BücherBuch des Fabianus Papirius mit großer Begierde in Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 100,133 rückblickend näher als ein solches bestimmt wird. Darüber hinaus meint in diesem Kontext das Verb contemplatio (das Hinrichten des Blickes auf etwas)34 – v. a. in Zusammenhang mit diligens (aufmerksam, gründlich, gewissenhaft)35 – eine intensiveAufmerksamkeitvertieft, individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Auseinandersetzung mit einem Redemanuskript. Vorausgesetzt ist dabei auch, dass der Text iterativLektüreMehrfach-Frequenziterativ gelesen wird.

      Zuletzt sei nun noch auf einige Quellen verwiesen, in denen Lesen zwar nicht mit einem verbum vivendi benannt wird, die aber eindeutig zeigen, dass das AugeAugen als Leseorgan verstanden wurde. Bei Platon findet sich eine Stelle, an der BuchstabenBuch-stabe wie beim AugenarztAugen-arzt als eine Art SehtestSehtest gelesen werden (Plat.Platon polit. 2,368d). Bei PlutarchPlutarch findet sich ein ausführliches Gespräch darüber, warum ältere Menschen Texte