Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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einen SklavenSklave darum, Licht (es ist noch dunkel) und sein Geschäftsbuch (γραμματεῖον) zu holen. „[D]amit ich es nehme und lese (ἵν᾽ ἀναγνῶ λαβὼν), wem ich etwas schulde und die Zinsen berechne. Gib’, dass ich sehe, was ich schulde. (φέρ᾽ ἴδω τί ὀφείλω) [Anm. JH: liest] Zwölf Minen dem Pasias. [Anm. JH: blickt auf und spricht nicht mehr lesend:] Zwölf Minen dem Pasias? …“ (Aristoph.Aristophanes Nub. 19–22). Wie schon bei der vorhergehenden Stelle, wird εἶδονεἶδον hier gleichsam synonym zu ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω verwendet, wobei Strepsiades das Geschäftsbuch aus dramaturgischen Gründen vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend liest und seinen Leseprozess für kommentierende Anmerkungen jeweils unterbricht.

      Eine ähnliche Szene findet sich bei Demosthenes, der ebenfalls εἶδονεἶδον verwendet, um die Einsicht in GeschäftsbücherBuchGeschäfts- zu beschreiben. Und zwar berichtet Demosthenes, dass Kallipos in einer Bank um Einsicht in die Geschäftsbücher bittet, um zu überprüfen, ob der gestorbene Phormion Geld hinterlassen habe (ἀξιῶ δή σε δεῖξαί μοι τὰ γράμματαγράμματα, ἵν᾽ εἰδῶ εἴ τι καταλέλοιπεν ἀργύριον; Demosth.Demosthenes or. 52,5). Die Bücher werden ihm auf der Stelle gebracht. Als er sie gelesen und einen bestimmten (für ihn unangenehmen) Eintrag gesehen hat (ἀναγνοὺς αὐτὸς καὶ ἄλλος οὐδείς, καὶ ἰδὼν γεγραμμένονγράφω ἐν αὐτῷ …; Demosth. or. 52,6), verlässt er die Bank ohne einen Ton zu sagen.17 Die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre der Geschäftsbücher – Kallipos hat sie selbst in der Hand – ist hier eindeutig visuellvisuell konzeptualisiert. Nichts im Kontext deutet auf vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Lektüre hin. Die hier zu findende Wendung „etwas Geschriebenes sehenSehen“ findet sich spätestens seit dem 5./4. Jh. v. Chr. vielfach als MetonymieMetonymie für Lesen,18 etwa auch im Hinblick auf das Lesen von BriefenBrief19 und ist für die Interpretation einiger Stellen im NT relevant (vgl. insb. den eigenhändigen Briefgruß von Paulus, der eindeutig für visuell wahrgenommen werden musste).20

      Schon im 4. Jh. v. Chr. findet sich auch eine Stelle, an der θεωρέωθεωρέω im Sinne von „lesen“ verwendet wird, und zwar bei Alkidamas, dem Gegner von Isokrates. Dieser gibt in seiner (schriftlich publizierten; s. u.) RedeRede „Über die Schreiber von geschriebenen Reden oder über die Sophisten“ zu bedenken, dass „die geschriebeneSchriftGeschriebenes Rede (ὁ γεγραμμένοςγράφω λόγοςλόγος), […] wenn sie aus einem BuchBuch heraus betrachtet wird (ἐκ βιβλίου <μὲν> θεωρούμενος), Ehrfurcht hervorruft“ (Alkid.Alkidamas Soph. 28) aber sonst keinen wirklichen Nutzen habe. Die Formulierung „aus einem Buch heraus betrachten“ impliziert m. E. ganz eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre einer in einer RolleRolle (scroll) aufgeschriebenen Rede, wie sie z.B. auch bei Isokr.Isokrates 12,216.246, Plut.Plutarch Pomp. 79 oder Plin. ep.Plinius der Jüngere 1,16,3 (s. o.) vorausgesetzt wird, und nicht eine vermeintliche Situation, in der die Rede vor einem PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) vorgelesen wird.21 Dies zeigt insbesondere der argumentative Kontext (vgl. Alkid. Soph. 27), in dem Alkidamas geschriebene Reden, die für ihn eher den Charakter eines Abbildes, eines Musters oder einer Imitation von Reden hätten, mit Bronzestatuen, Steinmonumenten und der Darstellung von Lebewesen vergleicht, die eben von Individuen visuellvisuell wahrgenommen werden und, wie er selbst betont, beim Betrachten Vergnügen bereiten (καὶ τέρψιν μὲν ἐπὶ τῆς θεωρίας ἔχει). Dieser Vergleich zeigt, dass Alkidamas die von ihm kritisierten geschriebenen Reden in Rollenform in seiner Zeit – er hat die Reden von Isokrates im Blick22 – nicht (primär) als Vorlagen für den performativen Vortrag versteht,23 sondern als Werke für die fortlaufende, individuelle Rezeption. Dies entspricht im Übrigen dem, wie etwa L. van Hook die Intention von Isokrates’ Reden charakterisiert:

      „It was his aim in written discourse, which was to be read, to produce work of lasting value, to be thorough, and to be honest; not merely to educate youths as speakers and litigants, but to prepare them for actual life and as leaders of public opinion.”24

      Da Alkidamas in der vorliegenden RedeRede selbst auf das Format der schriftlichen PublikationPublikation/Veröffentlichung einer Rede zurückgreift, muss er angesichts seiner Kritik an Isokrates einigen argumentativen Aufwand zur Selbstrechtfertigung betreiben (vgl. Alkid.Alkidamas Soph. 29–32). Er selbst nutze das Format der schriftlichen Rede, damit seine Darlegungen zu den Massen herausgetragen werden kann (εἵνεκα τῶν εἰς τοὺς ὄχλους ἐκφερομένων; Alkid. Soph. 31), d. h. er hat einen breiten Rezipientenkreis im Blick, der über den eines Auditoriums weit hinausgeht und den er ebenfalls in Alkid. Soph. 31 nicht mit einem PartizipPartizip eines verbum dicendiverba dicendi, sondern mit dem Partizip von ἐντυγχάνωἐντυγχάνω als „meine RezipientenRezipient/LeserLeser“ (s. o. 3.4) anspricht. In diesem Kontext verwendet er mit der Formulierung „Hinabsehen in das Geschriebene“ (εἰς δὲ τὰ γεγραμμέναγράφω κατιδόντας; Alkid. Soph. 32) im Übrigen eine weitere, visuellvisuell konnotierte Umschreibung einer Form individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre, bei welcher der Leser auf das in der RolleRolle (scroll) Geschriebene hinabschaut.

      Eine weitere eindrückliche Szene findet sich im Hauptwerk von Dionysios von Halikarnassos, in der er die Geschichte Roms erzählt. In Buch 5 beschreibt Dionysios, wie die Konsuln aus der Frühzeit der Römischen Republik eine Verschwörung aufdecken und Briefe der Verschwörer finden (vgl. Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos ant. 5,7,2–4). Nach der nächtlichen Aufdeckung der Konspiration setzt sich der Konsul Brutus am Morgen auf den RichterstuhlGericht (καθίσας ἐπὶ τὸ βῆμα).

      „Und er sahSehen die Briefe der Verschwörer durch (καὶ τὰς ἐπιστολὰςἐπιστολή τῶν ἐν τῇ συνωμοσίᾳ διασκεπτόμενος), wobei er fand (εὑρίσκωεὑρίσκω), dass diese von seinen Söhnen geschriebenSchriftGeschriebenes worden waren, was er jeweils an den Siegeln erkannte“ (Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos ant. 5,8,2).

      Das Verb διασκοπέωδιασκοπέω (durchsehen, genau betrachten, untersuchen)25 zeigt an, dass die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre im SitzenHaltungsitzen eindeutig visuellvisuell konzeptualisiert ist. Zudem geht aus dem Kontext hervor, dass Brutus die Briefe nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend liest. So befiehlt er im Folgenden, dass die Briefe vorgelesen würden (ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω), damit auch den anderen Anwesenden der Inhalt zu Gehör gebracht wird. Sehr ähnlich ist eine Szene in der in der ersten Hälfte des 3. Jh. geschriebenen Vita des Apollonios von Tyana von Philostrat. Der Ich-ErzählerErzähler vermutet hier, dass der KönigKönig keine Nahrung zu sich genommen hätte, weil er Gerichtsakten durchgesehen habe (διοράωδιοράω). „Er habe nämlich eine SchriftrolleRolle (scroll) in der Hand gehabt und bald mehr, bald