Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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nat.Plinius der Ältere 31,3,7), ein Epigramm von Ciceros freigelassenem SklavenSklave Laurea Tullus. Darin finden sich die folgenden Zeilen: „Der Ort hat wahrlich zu Ciceros Ehre dies gespendet/als er die kräftige Wirkung der Quelle erschloß/damit, da er von der ganzen Welt ohne Ende gelesen wird (quoniam totum legiturlego sine fine per orbem),/es an Wasser nicht mangelt, welche die Augen heilen“ (Plin. nat. 31,3,8; Üb. R. KÖNIG). Plinius d. J. gibt als Grund dafür an, dass er sich der Lektüre (lectiolectio) enthalte und nur mit den OhrenOhr studiere (solis auribus studeo, vermutlich mit Hilfe eines VorlesersVorleser), weil er Rücksicht auf seine schwachen Augen nehme (Plin. ep.Plinius der Jüngere 7,21,1). Diese Stelle zeigt eindeutig, dass die Nutzung eines Vorlesers nicht der Normalfall beim Lesen war, sondern mit spezifischen Bedürfnissen zusammenhing. Martial thematisiert das Ermüden der Augen in Zusammenhang mit der Farbe des Schrifthintergrundes (Mart.Martial 16,5). Bei Aulus GelliusGellius, Aulus findet sich das (hier freilich nur als Vorwand angeführte) Motiv, dass die Augen vom ununterbrochenen StudiumStudium in der Nacht (lucubratiolucubratio) verderben, wobei aus dem Kontext deutlich wird, dass es ums Lesen geht (Gell. 13,31,10–12).36 PorphyriosPorphyrios bezeugt, dass die Sehfähigkeit PlotinsPlotin für die Lektüre seiner eigenen Texte zu stark eingeschränkt war.37

      Ferner ist im Rahmen dieses Unterkapitels noch darauf hinzuweisen, dass entsprechend des inneren Hörens auch das innere SehenSehen im Kontext von Leseprozessen in der Antike belegt ist.38 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine LeseszeneLese-szene bei Dion ChrysostomosDion Chrysostomos, dem es nach seinen morgendlichen Verrichtungen nach dem Frühstück danach ist, TragödienTragödie zu lesen (καὶ μικρὸν ἐμφαγὼν ἐνέτυχον τραγῳδίαις τισίν; Dion Chrys. or. 52,1), die er explizit benennt und vergleichendLesenvergleichend liest:39 Philoktetes von SophoklesSophokles, Aischylos und Euripides (vgl. Dion Chrys. or. 52,2 f). Seine LeseerfahrungLese-erfahrung reflektiert er dabei wie folgt:

      “So I was feasting my eyes on the spectacle portrayed by these dramas (Οὐκοῦν εὐωχούμην τῆς θέας) and figuring to myself that, even if I had been in Athens in those days, I could not have witnessed such a contest as this of those distinguished poets. […] Accordingly, I played choregus for myself in very brilliant style and tried to pay close attention, as if I were a judge passing judgement on the premier tragic choruses“ (Dion Chrys. or. 52,3 f; Üb. COHOON).

      Bei Dion läuft während der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre eine innere Aufführung der genannten TragödienTragödie ab. Er lässt ein „Bewußtsein der ubiquitären und überzeitlichen Verfügbarkeit der Texte“40 erkennen, die er als großen Vorteil der Lektüre gegenüber der Rezeption im TheaterTheater hervorhebt. Als Verb verwendet er hier mit εὐωχέω (Akt.: gut bewirten; Med.-Pass.: sich sättigen, schmausen) eine innovative und ausdrucksstarke Speisemetapher. Damit ist ein weiteres, in der Antike variantenreich und breit bezeugtes metaphorischesMetapher Konzept benannt, das Lesen konzeptualisiert und nun im Folgenden zu besprechen ist.

      3.9 Lesen als Essen und Trinken

      Verbreitet sind zuletzt MetaphernMetapher des Essens und Trinkens, auf die an der einen oder anderen Stelle schon hingewiesen wurde und mit denen das Lesen bzw. die Rezeption von Texten konzeptualisiert wird – metasprachlich lässt sich dieses weit verbreitete Konzept konventionalisiert als ESSEN/TRINKEN IST LESEN beschreiben.1 Speise- und Trankmetaphorik ist allerdings nicht dem Lesen von Texten exklusiv vorbehalten, sondern wurde schon seit klassischer Zeit,2 aber vor allem in jüdischerJudentum (insbesondere rabbinischerrabbinisch) und christlicher Literatur auch für die Rezeption mündlicher LehreLehre verwendet;3 z. T. ist die Abgrenzung schwierig, da der Kontext der jeweiligen Quelle keine Schlussfolgerungen zulässt.4 Dies muss im Rahmen dieser Studie jedoch nicht weiter vertieftAufmerksamkeitvertieft werden. Es ist im Rahmen dieser Studie auch nicht möglich, die Lesemetaphern des Essens und Trinkens in der griechisch- und lateinischsprachigen Literatur systematisch und vollständigUmfangvollständig zu erfassen und auszuwerten. Angesichts der Vielzahl von möglichen Lexem- und Motivkombinationen sowie der Vielfalt von grammatikalischen Konstruktionen, denen das Konzept ESSEN/TRINKEN IST LESEN zugrunde liegt, wäre dies Aufgabe für eine eigene Studie. Im Folgenden werden daher lediglich ausgewählte, aussagekräftige Quellenbelege anzuführen sein, die exemplarisch im Hinblick auf die Frage hin auszuwerten sind, welche Rückschlüsse sie auf antike LesepraktikenLese-praxis zulassen.

      Schon in Aristophanes’ Die Acharner (Ἀχαρνῆς) meint die Formulierung καταπιὼν Εὐριπίδην (Aristoph.Aristophanes Acharn. 484) wohl die Rezeption seiner TragödienTragödie. Analog findet sich bei Lukian in seinem Stück Der tragische Jupiter (Ζεὺς Τραγῳδός) die Formulierung „den ganzen Euripides ausgetrunken/heruntergestürzt zu haben“ (τὸν Εὐριπίδην ὅλον καταπεπώκαμεν; Lukian.Lukian von Samosata Iupp. trag. 1,20). Damit wird im Kontext ausgedrückt (resultativer Aspekt des Perfekts), dass man die Stücke des Euripides nicht vollständigUmfangvollständig ausgetrunken, d. h. „ausgelesen“ haben kann, weil er mutmaßlich zu gehaltvoll dazu ist.

      In der für unecht gehaltenen Platonschrift Hipparchos wird das Lesen der Sprüche des Hipparchos, die in inschriftlicherInschriften Form am Wegesrand stehen und von den Vorbeigehenden mutmaßlich individuell-direktLektüreindividuell-direkt gelesen werden (παριόντες ἄνω καὶ κάτω), mit dem Kosten seiner Weisheit parallelisiert (καὶ ἀναγιγνώσκοντεςἀναγιγνώσκω καὶ γεῦμα λαμβάνοντες αὐτοῦ τῆς σοφίας; [Ps.]-Plat.Platon Hipparch. 228e). In einem bei Athenaios überlieferten Fragment einer KomödieKomödie des attischen Dichters BatonBaton (3. Jh. v. Chr.) wird mit der Metaphorik ESSEN/TRINKEN IST LESEN ironisch gespielt:

      „Gut, Sibyne, schlafen wir die Nächte gewiss nicht, auch sind wir nicht gut ernährt/gebildet (οὐδ’ ἀνατετράμμεθ’), sondern wir zünden eine Lampe an, und [halten] ein BuchBuch in den Händen (καὶ βυβλίον ἐν ταῖς χερσί), und denken darüber nach (φροντίζω), was Sophon hinterlassen hat, oder was Simonaktides von Chios, oder Tyndarichos von Sikyon, oder Zopyrinos“ (Athen.Athenaios deipn. 14,81 [662c]: CAF 3, Bato Fr. 4).

      Die Speisemetapher steckt in diesem Fragment im Verb ἀνατρέφωἀνατρέφω (auffüttern, aufziehen), was hier zunächst bedeutet, dass diejenigen, die in der 1. Pers. Pl. sprechen sich für nicht gebildet halten und daher des Nachts lesen. Lesen wird hier mit der weit verbreiteten LesemetonymieMetonymie „ein BuchBuch in der Hand halten“ konzeptualisiert (s. o.); die kognitivekognitiv Verarbeitung beim Lesen wird mit dem Verb φροντίζω angezeigt. Vorausgesetzt ist also das Konzept individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Nachtstudien (s. o. zum Motiv der lucubrationeslucubratio), bei denen die auditiveauditiv Dimension des Textes keine Rolle zu spielen scheint. Die Stelle zeigt vielmehr, dass gefüttert, d. h. gebildet zu sein, an der Belesenheit eines Individuums hängt. Die Ironie der Stelle liegt nun aber darin, dass die genannten Personen allesamt AutorenAutor/Verfasser von Kochbüchern sind, wodurch sowohl das Motiv der Nachtstudien ironisch gebrochen wird als auch das Verb ἀνατρέφω eine Doppeldeutung erhält.

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