Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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et cum multa percurrens [Sen. ep. 2,4]) konzeptualisiert ist. Insbesondere das Verb percurropercurro (durchlaufen, durcheilen) scheint eine gängige LesemetapherMetapher im Lateinischen zu sein und ein eher oberflächliches, „überfliegendes“ Lesen zu bezeichnen.20 Eine solche Lektürepraxis bewertet Seneca kritisch und begründet dies unter anderem speisemetaphorisch: Verschiedene Speisen, von denen man nur kostet, sind nicht nahrhaft (Sen. ep. 2,4). Damit bringt Seneca eine Erfahrung der Begrenztheit kognitiverkognitiv Verarbeitbarkeit von Gelesenem bei einer solchen oberflächlichen Form von Lektüre zum Ausdruck. Entsprechend ist auch sein Rat zu früheren Lektüren zurückzukehren (redeoredeo), also wiederholt zu lesen bzw. einzelne LesefrüchteLese-frucht für sich selbst festzuhalten, möglicherweise durch ein schriftliches ExzerptExzerpt, und sich anzueignen, also das intensiv zu Verarbeitende zu selektieren, wofür die Lektüre vermutlich auch unterbrochenLese-pausen/-unterbrechungAufmerksamkeitvertieft werden muss.21 Interessant ist ferner noch, dass Seneca die Auswahl seiner Lektüren ebenfalls durch eine innovative Bewegungsmetapher zum Ausdruck bringt: das Hinübergehen (transeotranseo) ins feindliche Lager (Sen. ep. 2,5). In einem anderen Buch verwendet er für die von ihm kritisierte LeseweiseLese-weise das Verb erroerro, um das ziellose Umherirren in den Büchern vieler AutorenAutor/Verfasser zum Ausdruck zu bringen (Sen. tranq. 9,4).

      Zuletzt und überleitend zum nächsten Punkt sei noch auf eine besondere Form der Bildlichkeit der BewegungBewegung hingewiesen und zwar auf solche Fälle, wo sich nicht – wie in den meisten bisher besprochenen Quellen – der LeserLeser durch den Text bewegt, sondern explizit die AugenbewegungAugen-bewegung thematisiert wird. Besonders aufschlussreich im Hinblick auf die vorliegende Studie ist in dieser Hinsicht ein Redebeitrag von Aristobulos in Plutarchs Dialog über den Verstand von Land- und Wassertieren:

      „Wir können oft Schriften mit den AugenAugen durchlaufen, und es können RedenRede in das OhrOhr fallen, ohne daß wir etwas davon auffassen und behalten, weil wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas Anderes gerichtet haben (καὶ γὰρ γράμματαγράμματα πολλάκις ἐπιπορευομένους τῇ ὄψει καὶ λόγοι προσπίπτοντες τῇ ἀκοῇ διαλανθάνουσιν ἡμᾶς καὶ διαφεύγουσι πρὸς ἑτέροις τὸν νοῦν ἔχοντας). So wie aber diese zum Gegenstand zurückkehrt, gehen wir denkend alles Vorbeigelassene noch einmal durch. Daher heißt es auch: ‚Der Verstand sieht, der Verstand hört; alles andere ist taub und blind (νοῦς ὁρῇ καὶ νοῦς ἀκούει, τἄλλα κωφὰ καὶ τυφλά),‘ [Epicharmos, PCG 1 214]. Denn der Eindruck auf Augen und Ohren bringt, wenn nicht das Denken dabei ist, keine Empfindung hervor“ (Plut.Plutarch soll. an. 3 [mor. 961a]; Üb. OSIANDER/SCHWAB)

      Autobulos siniert hier eindrucksvoll über den Zusammenhang zwischen Lesen und kognitiverkognitiv Verarbeitung. Seine Ausführungen beruhen allem Anschein nach nicht nur auf der Selbstwahrnehmung seiner eigenen LesepraxisLese-praxis, sondern spiegeln ein in der Antike weiter verbreitetes Bewusstsein wider. Zur Beschreibung des Lesens verwendet er das Motiv „BuchstabenBuch-stabe mit den AugenAugen durchmarschieren/-reisen“ (ἐπιπορεύομαιἐπιπορεύομαι τῇ ὄψει), womit eindeutig ein (unbewusster) individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Leseprozess gemeint ist. Und zwar verweist er damit spezifisch auf die physiologischen Prozesse des Lesens, die darauf angewiesen sind, dass auch der Verstand auf das Gelesene gerichtet wird. Denn wenn die Aufmerksamkeit des LesersLeser auf etwas anderes gerichtet ist, kann der Leser den Inhalt des Textes kognitiv nicht weiterverarbeiten, was etwa auch Augustinus reflektiert.22 Allerdings scheint der zweite Satz „So wir aber …“ auf eine Erfahrung hinzudeuten, dass auch bei einem Leseprozess, bei dem der Leser gedanklich abschweift, unterbewusst doch etwas wahrgenommen werden kann, das einem im Nachhinein durch Zurücklenkung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, bewusst gemacht werden kann. Dass hier außerdem zwischen dem Auge als primärem RezeptionsorganRezeption für das Lesen und dem OhrOhr als primärem Rezeptionsorgan für die RedeRede unterschieden wird, deutet in diesem Kontext außerdem eher darauf hin, dass er nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierends Lesen voraussetzt.23 Im ZitatZitat von Epicharmos zeigt sich zudem ein Bewusstsein für das „innere Auge“ und das „innere Ohr“ als Beschreibungskategorien für die kognitiven Verarbeitungsprozess beim Lesen, die schon an anderer Stelle angesprochen wurden.

      Bei HorazHoraz (sat. 2,5,51–55) findet sich eine eindrucksvolle Szene, in der es um das Lesen eines Testamentes geht. In einem Dialog mit Teiresias rät Odysseus diesem, er möge, wenn jemand ihm sein Testament zu lesen geben wolle, es dankend zurückweisen. Dabei möge er sich jedoch bemühen, unbemerkt einen Seitenblick auf die zweite Zeile der ersten Seite (der tabulae) zu werfen (ut limis rapias, quid prima secundo ceracera velit versu; Hor. sat. 2,5,53f), in der die Erben namentlich erwähnt werden. Mit schnellem AugeAugen solle man dabei rennen (veloci percurrepercurro oculo), um zu schauen, ob er allein oder mit anderen erbt (Hor. sat. 2,5,54f). Hier ist eindeutig eine beiläufige individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre im Blick, die schnellLese-geschwindigkeit und unbemerkt ablaufen muss und eindeutig rein visuellvisuell konzeptualisiert ist. Die weite Verbreitung der Wahrnehmung des Lesens als visuelles Phänomen wird nun im Folgenden zu thematisieren sein.

      3.8 Lesen als Sehen des Textes

      EsSehen finden sich zahlreiche Belege in den Quellen, die zeigen, dass Lesen in der Antike als visuellvisuell orientiertes Phänomen wahrgenommen und beschrieben wurde.1 Dies spiegelt sich darin wider, dass zahlreiche Verben der visuellen Wahrnehmung (im Folgenden: verba vivendi) zur Beschreibung von LeseaktenLese-akt verwendet werden konnten. Im Folgenden wird eine Auswahl der aussagekräftigsten Quellenstellen exemplarisch besprochen.

      Die auffälligste Beobachtung am Quellenbefund besteht darin, dass das Lesen von InschriftenInschriften, das auch ikonographischLese-ikonographie dargestellt wird,2 eng mit der visuellenvisuell Wahrnehmung verknüpft ist.3 Dies zeigen a) sowohl selbstreferenzielleselbstreferenziell Verweise in den Inschriften selbst als auch b) literarische Quellen, in denen in unterschiedlicher Form das Lesen von Inschriften reflektiert wird, das in den meisten Fällen wohl eine Form des zufälligen Lesens darstellt.4

      ad a) Eine außerordentlich detailreiche Reflexion des Lesevorgangs von InschriftenInschriften findet sich in einer Inschrift aus Alexandria aus dem 3./2. Jh. v. Chr.: „… der Stein wird dir den Toten bezeichnen (σημανεῖ), als wer und wessen Sohn er in den Hades ging. Aber beuge mir, Freund, das totengeleitende Knie [d. h. das dich zu den Toten/zur Inschrift führt?] auf den Boden und beschaue mit beiden Pupillen die gravierte Inschrift (ἄθρει γράμμα διπτύχοις κόραις)“ (GVI 1620,1–5).5 Die HaltungHaltung des Kniens, die Verwendung des Verbes ἀθρέωἀθρέω und der Hinweis auf die Pupillen zeigen eindeutig, dass der LeseaktLese-akt visuellvisuell konzeptualisiert ist. Dies korrespondiert damit, dass der Stein selbst nicht spricht, sondern durch das Verb σημαίνω eher der visuelle Charakter des GeschriebenenSchriftGeschriebenes hervorgehoben wird. Die eindeutig individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Rezeption des