Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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3,57,7–9).

      „Ebenso finden die, die beim Lesen (περὶ τὴν ἀνάγνωσιν) ähnlich verfahren, weder für den Augenblick wirkliche UnterhaltungUnterhaltung, noch erzielen sie für die Zukunft den gebührenden Gewinn“ (Polyb.Polybios 3,57,9; Üb. DREXLER).

      Aus dieser Stelle lassen sich folgende Einsichten gewinnen: 1) PolybiosPolybios scheint eine verbreitete Praxis zu kritisieren. 2) Es ist eine selektiveUmfangselektiv, oberflächlicheAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig und nicht-iterativeLektüreMehrfach-Frequenziterativ LeseweiseLese-weise, also die Lektüre vieler Werke ohne eingehende Beschäftigung vorauszusetzen. 3) Daher kann ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις hier auch nur die individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre meinen, da bei einer kollektiv-indirektenRezeptionkollektiv-indirekt Rezeption die durch den speisemetaphorischen Vergleich vorausgesetzten Zugriffsweisen nicht realisierbar wären.

      Artemidor von Daldis verwendet in seinen Traumdeutungen die – freilich hier geträumte – MetapherMetapher des Essens von Büchern, die sich auch in den biblischen Schriften findet,5 um das Lesen derselben auszudrücken:

      „Das Verzehren von Büchern (ἐσθίειν δὲ βιβλία) bringt Erziehern, Sophisten und allen, die durch RedenRede oder BücherBuch ihr tägliches Brot verdienen, Nutzen; allen anderen Menschen prophezeit es jähen Tod“ (Artem.Artemidor von Daldis on. 2,45; Üb. BRACKERTZ).

      Artemidor unterscheidet hier zwei Rezipientengruppen: Solche, die berufsmäßig BücherBuch lesen, und alle übrigen. Die Formulierung impliziert, dass das Lesen von Büchern auch bei nicht-berufsmäßigen Lesern durchaus verbreitet war. Daneben basiert auch die weite Verbreitung in griechischen und lateinischen Quellen, das Urteil über Gelesenes als Geschmack zu konzeptualisieren, auf der hier diskutierten Metaphorik.6

      Entsprechend lässt sich die Metaphorik häufig auch bei lateinischen AutorenAutor/Verfasser finden. CiceroCicero, Marcus Tullius antizipiert in einem BriefBrief an M. Marius aus dem Jahr 55 v. Chr., dieser habe in den Morgenstunden in seinem Schlafzimmer mit schönem Ausblick auf das Meer „kleine Lektüren konsumiert“ (per eos dies matutina tempora lectiunculis consumpseris; Cic. fam. 7,1,1), was hier tatsächlich meint, er habe aus ästhetischem Genuss gelesen.7 In einem seiner Briefe an Atticus berichtet er (Cic. Att. 4,10), dass er sich in seiner VillaVilla am Lucriner See an „der BibliothekBibliothek des Faustus sättigt“ (ego hic pascor bibliotheca Fausti) – also an den Schriften aus der Bibliothek des Apellikon, die auch Aristotelesmanuskripte enthielt,8 – und nicht nur an den Delikatessen aus dem See. Diese Lesetätigkeit, die er im SitzenHaltungsitzen in einem kleinen Sitz (sedecula) ausführt, beschreibt er selbst als „Studien“ (litterae).9

      Bei OvidOvidius, P. Naso findet sich Lesen dann metaphorischMetapher als Trinken konzeptualisiert.

      „Dass andere Dichtungen vom großen Triumph um die Wette geschriebenSchriftGeschriebenes schon längst vom Mund des Volkes gelesen, vermute ich (iam pridem populi suspicor ore legilego). Jene trinkt der dürstende LeserLeser (lectorLektor) und nur der satte [Leser] von meinem Becher; jenes Getränk ist frisch, mein Wasser wird schal sein, “ (Ov. Pont. 3,4,53–56)

      Aus dieser Stelle lassen sich mehrere wichtige Einsichten gewinnen: 1) OvidOvidius, P. Naso geht davon aus, dass lyrische Texte sich nicht nur an die OberschichtElite richteten, sondern von einer breiteren Bevölkerungsgruppe (populus) rezipiert wurden.10 2) Die Texte werden dem VolkVolk nicht vorgelesen,11 sondern der „Mund des Volkes“ liest sie individuell-direktLektüreindividuell-direkt. Dies zeigt auch die Ov. Pont. 3,4,55, wo der LeserLeser (lectorLektor) im Singular als die Texte Trinkender dargestellt wird. 3) Dass Ovid hier den „Mund“ (os) als Leseinstanz benennt, impliziert vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend (möglicherweise auch nur subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend) Lektüre. Dies ist angesichts lyrischer Texte erwartbar, die – wie auch die Ausgestaltung der Metaphorik verdeutlicht – vorrangig aus Gründen des ästhetischen Genusses rezipiert werden.12

      Seneca macht ebenfalls reichen Gebrauch der hier diskutierten Metaphorik. Neben der eindrücklichen, oben schon besprochenen Stelle (S. 194 f), formuliert er in einem anderen BriefBrief, dass er ein BuchBuch erhalten habe und es zunächst nur aufgeschlagen habe, so als würde er es später lesen wollen – und zwar um einen Vorgeschmack zu bekommen.13 Diese Stelle belegt einen eher oberflächlichenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig, selektivenUmfangselektiv und diskontinuierlichenKontinuitätdiskontinuierlich Zugriff auf die BuchrolleRolle (scroll).

      Eine aufschlussreiche Stelle findet sich bei Quintilian. Dieser schreibt im Kontext einer ausführlichen Gegenüberstellung des Hörens von RedenRede und der eigenen Lektüre:

      „Die Lektüre ist unabhängig (lectiolectio libera est) und läuft nicht mit dem Ungestüm der vorgetragenen RedeRede ab, sondern sie kann immer wieder zurückgreifen (sed repetere saepius licet), falls man Zweifel hat oder man es dem GedächtnisGedächtnis fest einprägen möchte. Zurückgreifen aber wollen wir und grundsätzlich es immer wieder neu vornehmen (repetamus autem et tractemus), und wie wir die Speisen zerkaut und fast flüssig herunterschlucken, damit sie leichter verdaut werden, so soll unsere Lektüre nicht roh, sondern durch vieles Wiederholen mürbe und gleichsam zerkleinert unserem Gedächtnis und Vorrat an Mustern (zur Nachahmung) einverleibt werden“ (Quint.Quintilian inst. or. 10,1,19; Üb. RAHN).

      Quintilian sieht einen Vorteil der Lektüre darin, dass man beim Lesen auf Vorangegangenes zurückgreifen (repeto) kann. Die Gegenüberstellung von repeto und retractoretracto deutet darauf hin, dass ersteres RegressionenRegression beim Lesen reflektiert und letzteres eine erneute Lektüre meint. Quintilian reflektiert hier also, dass der selbstbestimmte Umgang mit dem Medium bei der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre es erlaubt, zurückzublicken oder auch (teilweise bzw. ganz) zurückzurollen. Die Vorteile diskontinuierlicher und mehrfacherLektüreMehrfach- Zugriffsweisen sind für Quintilian dabei mnemotechnischer Art – sowohl im Hinblick auf inhaltliches AuswendiglernenAuswendiglernen als auch im Hinblick auf das LernenLernen von stilistischen Mustern. Die kognitivenkognitiv Verarbeitungsprozesse bei dieser Form von Lektüre konzeptualisiert Quintilian hier mit der Metaphorik des Essens und Verdauens. Einfach Gelesenes ist Rohkost, mehrfach Gelesenes ist mürbe und zerkleinert und kann daher besser mit dem GedächtnisGedächtnis verdaut und einverleibt werden, d. h. steht dem Lesenden zukünftig für die eigene Produktion von RedenRede oder Texten zur Verfügung.

      Wenn Apuleius die Bediensteten in der BibliothekBibliothek als „Kellermeister der BücherBuch“ (promus librorum; Apul.Apuleius apol. 53) bezeichnet, steht auch hier die zur Diskussion stehende konzeptuelle Metaphorik im Hintergrund. Etwas anders gelagert nennt Aulus GelliusGellius, Aulus (Gell. praef. 2) seinen Wissensspeicher, die ExzerpteExzerpt und Notizen von Lektüren und Gehörtem, „Proviant an BuchstabenBuch-stabe“ (litterarum penus).14 Hier wird also mit der gleichen Metaphorik das auch in der Antike gebräuchliche mnemotechnische Hilfsmittel von schriftlichen Aufzeichnungen thematisiert, die bei der Weiterverarbeitung dann als Proviant verzehrt, also gelesen werden müssen.

      4 Scriptio Continua und „typographische“1 Merkmale antiker Handschriften

      Griechischeγράφω