Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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die Wörter so umfassend internalisiert, dass sie sie problemlos in der scriptio continuaSchriftscriptio continua erkennen können, sodass ihr Leseprozess flüssig und schnellLese-geschwindigkeit ist.7 Zwar denkt Dionysios hier womöglich an das flüssige und schnelle vokalisierendeStimmeinsatzvokalisierend Lesen; sicher zu schlussfolgern ist dies jedoch nicht und ein Bezug auf schnelle inhaltsbezogene individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre ist ebenfalls möglich. Denn einerseits verwendet Dionysios das Verb an anderer Stelle eindeutig im Sinne von inhaltsbezogener individuell-direkter Lektüre, wenn er in seiner Schrift über ThukydidesThukydides formuliert: „Beispiele anzuführen, ist im Hinblick auf diejenigen unnötig, die durch die Historien selbst hindurchgegangen sind (τοῖς διεληλυθόσιν)“ (Dion. Hal.Dionysios von Halikarnassos Thuk. 8). Andererseits ist das Motiv des Stolperns kongruent zum LeseterminusLese-terminus διέρχομαιδιέρχομαι, der, wie oben gezeigt, eben auch metaphorischMetapher individuell-direkte Lektüre konzeptualisieren oder sich metonymischMetonymie auf die AugenbewegungAugen-bewegung beziehen kann und nicht zwingend metaphorisch auf den Gang des Vorleseprozesses bezogen ist. Das Stolpern meinte dann weniger eine Pause im flüssigen VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt als eine Unterbrechung der sakkadischen Augenbewegung durch eine längere Fixations- oder Regressionsdauer, die Dionysios reflektiert, aber freilich nicht mit der modernen Metasprache der LeseforschungLese-forschung beschreibt. Deutlich wird aus seinen Ausführungen in jedem Fall, dass die WorterkennungWort-erkennung unabhängig von der Frage, ob er an das vokalisierende oder nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen denkt, visuellvisuell und nicht über den Umweg der phonologischen Realisation über das OhrOhr abläuft; also das vokalisierende Lesen keineswegs die Voraussetzung darstellt, um einen Text in scriptio continua zu dekodieren.

      Auch die satirische Szene in den Noctes Atticae (Gell.Gellius, Aulus 13,31), in der ein „aufgeblasener Mensch“ (Gell. 13,31,1), der in einem Buchladen sitzt, der Hochstapelei überführt wird, thematisiert nicht die angeblichen Schwierigkeiten, die antike LeserLeser mit der scriptio continuaSchriftscriptio continua hatten, sondern die Schwierigkeiten eines Menschen, der nahezu Analphabet ist (aber etwas anderes vorgibt), einen ihm unbekannten Text vorzulesen. Die schlechte LesefähigkeitLese-fähigkeit (s. auch Literalität) des Hochstaplers wird dadurch hervorgehoben, dass er noch schlechter lese als ein Junge, der neu in die SchuleUnterricht gekommen ist (vgl. Gell. 13,31,9). Darüber hinaus ist überhaupt nicht klar, ob der AutorAutor/Verfasser dieser fiktiven Szene seinen Lesern einen lateinischen Text ohne WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) vor AugenAugen stellen wollte. Schließlich ist es sehr wahrscheinlich, für das 2. Jh. einen Text der Satiren Varros (1. Jh. v. Chr.) anzunehmen, der noch Worttrennungen aufwies (siehe zu Worttrennungen in lateinischen Hss.Handschrift/Manuskript unten mehr),8 wo Gellius doch das Alter und die Zuverlässigkeit der Hss. besonders betont: accipit a me librum veterem fidei spectatae, luculente scriptum (Gell. 13,31,6). Der Zusatz luculente scriptum (klar, prächtig geschriebenSchriftGeschriebenes) hebt sodann die gute LesbarkeitLesbarkeit der Schrift hervor.9 Damit kontrastiert Gellius erneut die schlechte Lesefähigkeit des Hochstaplers, der noch nicht einmal ein Prachtexemplar lesen kann. Das Lesen von scriptio continua thematisiert diese Quelle in jedem Fall nicht.

      „Denn nach rechts vorauszuschauen (prospicere in dextrum), was alle anraten, und im Voraus das Folgende zu überschauen (providere), ist nicht mit dem Verstand allein zu leisten, sondern auch eine Sache der praktischen Erfahrung; denn man muß ja schon auf das Folgende blicken, während man das Vorhergehende ausspricht und, was das Schwierigste ist, seinen Geist gleichzeitig auf zweierlei konzentrieren: die Betätigung der StimmeStimme und die der AugenAugen.“ (Quint.Quintilian inst. or. 1,1,34; Üb. RAHN).

      Auch für diese Stelle bei Quintilian gilt, dass er und seine anvisierten AdressatenAdressat im 1. Jh. n. Chr. überhaupt keine lateinischen Texte in scriptio continuaSchriftscriptio continua vor sich liegenHaltungliegen hatten, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach Texte, die WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) durch Mittelpunkte aufwiesen. Der materielleMaterialität Befund zeigt, dass es sich um einen methodischen Fehlschluss handelt, die scriptio continua der spätantiken und mittelalterlichen lateinischen Hss.Handschrift/Manuskript in die Zeit vor dem 2. Jh. zurückzuprojizieren.10 Sodann fokussiert Quintilian hier nicht auf das Lesen als Gesamtphänomen, sondern, wie der Makrokontext (Rhetorikausbildung), aber auch der Mikrokontext in inst. 1,1 (Grundlagen für die Rhetorikausbildung) eindeutig zeigt, auf die Schwierigkeiten, die mit der spezifischen Situation des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt vor anderen verbunden ist. Quintilians Curriculum des Lesenlernens steht ganz im Dienst der Ausbildung eines guten Redners. Die AugenAugen müssen beim Vorlesen nach rechts vorausschauen (prospicere in dextrum) und den kommenden Text vorausschauend wahrnehmen (providere), damit die mündliche Realisation des Textes zusammenhängend, flüssig und damit (für die ZuhörerHörer) verständlich wird (vgl. Quint.Quintilian inst. or. 1,1,31). Das, was Quintilian hier beschreibt, umfasst m. E. nicht nur das Phänomen beim vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend Lesen, das man in der LeseforschungLese-forschung als eye-voice span bezeichnet,11 sondern könnte sehr gut auch den sog. parafoveal previewparafoveal preview (s. o.) und LesestrategienLese-strategie implizieren, die kurze PausenLese-pausen/-unterbrechung nutzen, um im Text vorauszublicken und den Text dann erst stimmlich zu realisieren. Das Bewusstsein für diese Phänomen beim vokalisierenden Lesen findet sich auch in griechischen Quellen; kann also auch für das Lesen von scriptio continua vorausgesetzt werden. „Du liest einige [scil. BücherBuch] recht flüssig, während du deine Augen vor deiner StimmeStimme hältst“ (ἀναγιγνώσκεις ἔνια πάνυ ἐπιτρέχων, φθάνοντος τοῦ ὀφθαλμοῦ τὸ στόμα; Lukian.Lukian von Samosata adv. ind. 2). Auch dass Kydippe beim Lesen des Schwurs „Ja, bei Artemis, ich werde Akontios heiraten“, den letzterer auf einen Apfel geritzt hatte, das letzte Wort, das sich auf eine Hochzeit bezieht, nicht mehr stimmlich realisiert, es aber vorher erkannt haben muss (ἡμίφωνον καταλέλοιπε λέξιν τὴν ἐπ’ ἐσχάτῳ κειμένην ἅτε διαμνημονεύουσαν γάμον),12 erklärt sich durch den parafovealen Vorausblick.

      Insbesondere Quintilians Ausführungen verdeutlichen: Qualitätsvolles Vortragslesen, dem vorbereitende individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre vorausgeht,13 impliziert die Fähigkeit, im Leseprozess eine größere Menge Text nur mit den AugenAugen wahrnehmen zu können, da man ihn sonst nicht sinngemäß und flüssig vorlesen kann – und das gilt unabhängig von der Frage nach Wortzwischenräumen. Die höheren kognitivenkognitiv und physiologischen Anforderungen, die das qualitätsvolle VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt an die Leserinnen und LeserLeser stellt, spiegelt sich in den Ergebnissen empirischer Untersuchungen in der kognitionspsychologischen LeseforschungLese-forschung zumindest für Leserinnen und Leser der zeitgenössischen SchriftsystemeSchrift-system (s. o.). Insgesamt führen die kognitiv und physiologisch höheren Anforderungen des qualitätsvollen Vorlesens die These ad absurdum, dass man scriptio continuaSchriftscriptio continua nur vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend lesen konnte; bzw. die dahinterliegende Annahme, dass die Silben in der scriptio continua mit der StimmeStimme phonologischPhonologie realisiert werden mussten, damit die scriptio continua dekodiert werden