Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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wie ich zu sagen begonnen habe, tönt jedes Wort“ (Aug.Augustinus von Hippo de dial. 5,7, Üb. RUEF, 1981, hier 22).

      Es ist hier nicht möglich, die dichten semiotischen Ausführungen Augustins ausführlich zu analysieren.43 Die entscheidende Einsicht, die sich aus dieser Stelle gewinnen lässt, ist, dass das geschriebeneSchriftGeschriebenes Wort, das nur Zeichen eines Wortes ist, gerade nicht tönt. Lesen wird hier von Augustin eindeutig visuellvisuell konzeptualisiert (inspicioinspicio), womit er in der Antike nicht allein ist (s. o. 3.8). Der LeserLeser sieht nur die geschriebenen BuchstabenBuch-stabe, hört sie also nicht, und sie, die geschriebenen Buchstaben, zeigen dem Geist die Laute. Die Artikulation der Laute (mit der inneren LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice) oder stimmlich ausartikuliert) ist dann ein zweiter Schritt nach der kognitivenkognitiv Verarbeitung des Gelesenen. Dies impliziert eindeutig die Fähigkeit der kognitiven WorterkennungWort-erkennung beim nicht-vokalisierendenStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen von Texten, die in scriptio continuaSchriftscriptio continua geschrieben sind.

      4.3 Weitere „typographische“1 Gestaltungsmerkmale antiker Handschriften und die Frage nach „Lesehilfen“

      Neben der scriptio continuaSchriftscriptio continua weisen antike Hss.Handschrift/Manuskript noch eine ganze Reihe weiterer Merkmale auf, die in Relation zur LesepraxisLese-praxis zu interpretieren sind. Ein Großteil dieser Merkmale – z.B. DiakritikaDiakritika, Interpunktion, Dikola, ParagraphoiParagraphos – werden üblicherweise als „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ verstanden, wobei implizit an Hilfen für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt gedacht wird. In diesem Zuge abzuhandeln ist auch die Frage nach der durchschnittlichen Zeilenlänge in literarischen PapyriPapyrus mit Prosa aus der Kaiserzeit, die nach W. A. Johnson in einem Zusammenhang zu konkreten Leseanlässen gestanden hätten: „Bookrolls were not, in gross terms, conceptualized as static repositories of information (or of pleasure), but rather as vehicles for performative reading in high social contexts.“2 Insbesondere in der Forschung zu den neutestamentlichen Papyri werden diese sog. „Lesehilfen“ in den frühen Papyri, die traditionellerweise auf das 2. Jh. datiert werden, als Evidenz dafür herangezogen, dass diese Hss. für die Lesung im „GottesdienstGottesdienst“ geschriebenSchriftGeschriebenes worden wären.3

      Interpretationen, die „typographischen“ Merkmale antiker und antik-christlicher Hss.Handschrift/Manuskript in der Summe als Hilfen für das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt interpretieren, stehen in der Gefahr eines Zirkelschlusses, da sie die schwierigere LesbarkeitLesbarkeit der scriptio continuaSchriftscriptio continua a priori voraussetzen.4 Dies ist allerdings angesichts der obigen Ausführungen nicht mehr zu rechtfertigen. Es kommt hinzu, dass zwischen primären und sekundären (daher auch schwer zu datierenden) „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ zu unterscheiden ist5 – also solchen „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen, die in der ursprünglichen Anlage der HandschriftHandschrift/Manuskript vorgesehen waren, und solchen Eintragungen, die Benutzer in die Texte eingetragen haben, die eine Hs. dann für einen Vortrag verwendet haben. In methodischer Hinsicht ist zu formulieren: Nur aus primären „typographischen“ Gestaltungsmerkmalen, die sich eindeutig nur dem Vortragslesen zuordnen ließen, könnte eine sichere Aussage über die primäre Verwendungsweise einer Hs. getroffen werden.

      Ein Problem, insbesondere der Debatte um die Merkmale neutestamentlicher PapyriPapyrus, ist die einheitliche Kategorisierung von unterschiedlichen Phänomenen in den Hss.Handschrift/Manuskript als „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ oder lectional signs, die m. E. getrennt voneinander besprochen werden müssen. Und zwar:

      1 Markierungen auf der BuchstabenBuch-stabe- bzw. Wortebene;

      2 Markierungen, die eine Bedeutung für die Syntax haben bzw. größere Texteinheiten strukturieren;

      3 ParatextParatextuelle Elemente, die insofern von a) und b) zu unterscheiden sind, als es um textliche Elemente (Überschriften, Verfasserangaben, Seitenzahlen etc.) und Verzierungen geht;

      4 die Breite der Kolumnen.

      Die paratextuellenParatext Elemente c) werden zwar zumeist nicht unter „LesehilfenLese-hilfe (reading aid)“ gezählt, gehören aber in den Kontext der hier zu besprechenden Merkmale der Hss.Handschrift/Manuskript In diesem Zuge müssen auch andere, primär für die visuellevisuell Rezeption gedachte, Elemente wie Nomina sacra u. ä. kurz besprochen werden. Hinzu kommt das Problem, dass m. W. bisher keine umfassende, Handschriften übergreifende und systematische Untersuchung der als „Lesehilfen“ interpretierten Merkmale antiker Hss. existiert. Im Rahmen dieser Studie sind einige exemplarische Beobachtungen zu den frühen PapyriPapyrus (bis zum 3. Jh.) angezeigt, die auch dazu dienen, den Befund der neutestamentlichen Papyri in den Kontext antiker Hss. insgesamt zu stellen. Vorab ist auf ein gravierendes Erschließungsproblem der Forschungsdaten hinzuweisen.6 So werden insbesondere diakritischeDiakritika Zeichen und WortzwischenräumeWort-zwischenraum in den EditionenEdition von HandschriftenHandschrift/Manuskript nicht konsequent erfasst.7 In analogen Transkripten werden sowohl WorttrennungenWort-trennungen (s. Schrift) als auch diakritische Zeichen (gemäß den späteren grammatischen Regeln) hinzugefügt. Auch in digitalen Transkripten werden Informationen über diese Aspekte nicht konsequent in die Metadaten aufgenommen.

      Ein Beispiel dafür sind die digitalen Transkripte, die im Rahmen der Erstellung der Edito Critica maior hergestellt werden. Hier wird in den Richtlinien zur Transkription (von Matthias Piontek und Marie-Luise Lakmann, Version III, 1. November 2013) explizit ausgeschlossen, dass AkzenteAkzent, Spiritus (außer sie seien „das einzige Unterscheidungsmerkmal einer Wort- oder Formvariante“) und TremataTrema mittranskribiert werden. Der Verzicht ist mit dem Erkenntnisinteresse des Projektes, der Rekonstruktion des AusgangstextesAusgangstext, zu erklären, der, so die Annahme, keine diakritischenDiakritika Zeichen gehabt hätte. Darauf wird unten zurückzukommen sein.

       ad a) Markierungen auf der Buchstaben- bzw. Wortebene

      HierunterBuch-stabe fallen die sog. diakritischenDiakritika Zeichen (das TremaTrema, AkzenteAkzent sowie Spiritus) und aus meiner Sicht auch der ApostrophApostroph. Diese Zeichen sind sowohl in christlichen als auch nicht-christlichen Hss.Handschrift/Manuskript zu finde, aber kommen, so der Stand der Forschung, selten vor und deren Verwendung folget keiner festen Systematik.8 Es gibt mittlerweile einige Studien zu den sogenannten scribal habitsscribal habits, in denen diese Phänomene z. T. berücksichtigt werden. Ausführliche vergleichende Untersuchungen, die insbesondere auch den Befund in antiken Hss. insgesamt berücksichtigen, stellen m. W. jedoch weitgehend ein Desiderat dar.9

      TremataTrema sind recht regelmäßig in den neutestamentlichen PapyriPapyrus zu finden.10 Schon in 52 (P. Ryl. Gr. 3 457), der mutmaßlich ältesten neutestamentlichen Hs., finden sich drei Tremata über initialem Iota (ϊ; ro,1 f; vo,2), die Hurtado als LesehilfeLese-hilfe (reading aid) interpretiert.11 Dabei fällt ihm selbst auf, dass dem Trema auf der verso-Seite nicht die Funktion zukommt, eine DiäreseDiärese zu kennzeichnen, da das vorhergehende Wort mit einem -ν endet.12 Dieser Gebrauch ist auch in anderen neutestamentlichen13 und frühchristlichen14 Texten belegt und steht im Einklang mit Beispielen nicht-christlicher Mss.15 und findet sich sogar vielfach in InschriftenInschriften.16 So unterscheidet schon E. G. Turner zwischen „organischem“ Gebrauch des Trema, der Anzeige einer Diärese und dem häufig anzutreffenden „anorganischem“ Gebrauch, der Kennzeichnung eines initialen oder finalen Vokals eines Wortes, wobei üblicherweise ι oder υ gekennzeichnet werden.17 Aufschlussreich ist die Verwendung des Tremas in Joh 1,29Joh 1,29 in 66 im Vergleich zu 75. In 66 findet sich auf f. 3, Z. 21 ein Trema auf