Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


Скачать книгу

Art und Weise der Markierungen, wie in den neutestamentlichen PapyriPapyrus der Text (vorwiegend nach inhaltlichen Kriterien) strukturiert wird, unterscheidet sich eigentlich nicht von derjenigen, die in Papyri mit nicht-christlichen Texten aus derselben Zeit zu finden ist.81 Auch hier werden Texte mit Leerzeilen und/oder ParagraphoiParagraphos und/oder EktheseisEkthesis82 nach inhaltlichen Kriterien (in der Forschung zumeist als „Sinneinheiten“ o. ä. bezeichnet) strukturiert. Ferner finden sich auch Eistheseis (eingerückte Zeilen) als Strukturmarker in den Hss.Handschrift/Manuskript; so z.B. in einem Papyrus mit Fragmenten aus KallimachosKallimachos Aetia (P.Lille 76d; 3./2. Jh.), in dem ein Kommentar zum Text jeweils drei bis vier BuchstabenBuch-stabe eingerückt wird.83 Angesichts des Befundes insgesamt kommt S. A. Adams zu Recht zu der Schlussfolgerung: „Accordingly, the use of sense-unit divisions needs to be viewed as a scribal convention and part of a culturally conditioned writing practice.”84

      Wichtig sind zuletzt noch einige Beobachtungen zum Gebrauch die ParagraphosParagraphos. So wird diese bei Mss. mit dramatischen Texten üblicherweise dazu verwendet, um einen Figurenwechsel anzuzeigen, wobei der Name der Figur zuweilen am Rand notiert wird.85 Aus meiner Sicht ist es wahrscheinlich, dass es sich bei den meisten Textexemplaren dramatischerDrama Texte nicht um Vorlesemanuskripte oder Gebrauchsmanuskripte für das TheaterTheater handelt, sondern um Texte für die individuelle Rezeption.86 Dafür spricht etwa, dass PapyriPapyrus mit Tragödientexten gefunden wurden, die musikalische NotationMusik enthalten – also tatsächlich für performative Zwecke konzipiert worden sind87 –, während andere in den Chor-Passagen den bloßen Text bieten.88 Auch bei dramatischen Texten, die sekundär auf die Rückseite von (meist dokumentarischen) Papyri geschriebenSchriftGeschriebenes worden sind, finden sich Paragraphoi;89 genauso wie bei solchen, die Scholien enthalten.90 Zudem werden auch in einem ManuskriptHandschrift/Manuskript mit Platons Phaidon, ein philosophischesPhilosophie Werk in Dialogform, Paragraphoi verwendet, um den Sprecherwechsel der erzählten Figuren zu kennzeichnen.91

      Dass die ParagraphosParagraphos in antiken Hss.Handschrift/Manuskript insgesamt eher als inhaltlich ausgerichteter Strukturmarker verwendet wurde,92 denn als Vorlesehilfe diente, legt sodann die Verwendung in Kommentartexten,93 in medizinischenMedizin Fachtexten,94 in dokumentarischen, insbesondere listenartigen PapyriPapyrus und OstrakaOstraka,95 die wiederum eindeutig in einen nicht-performativen Verwendungszusammenhang gehören, sowie in Texten nahe, die aus schulischen Kontexten stammen.96 Zudem existieren Quellenbelege, in denen exakt die Verwendung als Strukturmarker reflektiert wird. So hat die Paragraphos bei Isokr.Isokrates or. 15,59 die Funktion, eine Stelle in einem ManuskriptHandschrift/Manuskript zu finden, von der an vorgelesen werden soll: ἀρξάμενος ἀπὸ τῆς παραγραφῆς ἀνάγνωθι τὰ περὶ τῆς ἡγεμονίας αὐτοῖς. Die These von W. A. Johnson, die Paragraphos habe in literarischen Prosatexten dazu gedient, das Vortragslesen zu unterstützen, indem er anzeigte, wo eine Pause zu machen sei, wäre hingegen neu zu diskutieren.97 Einerseits ist die methodische Validität seines praktischen Selbstversuchs hinterfragbar, andererseits kann er keine wirklichen Belege anführen und kommt zu seiner Schlussfolgerung durch die Vorannahme, dass man in der Antike generell lautLautstärkelaut gelesen hat.98

      ad c) Paratextuelle Elemente

      In den frühen PapyriPapyrus finden sich sodann auch schon paratextuelleParatext Elemente99 und solche Elemente, die lediglich visuellvisuell wahrgenommen und nicht lautlich realisiert werden können. Auch hier besteht wiederum das Problem, dass die meisten Papyri zu fragmentarisch sind, um Aussagen über die paratextuellen Elemente zu machen. Immerhin sind in 4,100 66101 und 75 TitelangabenTitel erhalten. In zahlreichen neutestamentlichen Papyri haben sich Reste der PaginierungPaginierung erhalten (u. a. 1, 38, 39, 45, 46, 66, 100, 106; vgl. auch MajuskelMajuskel 0189 [P.Berol. inv. 11765]. Titelangaben (als inscriptiones und subscriptionessubscriptio), Paginierung und sogar Verzierungen102 finden sich sodann in KodexKodex P.Bodm 7–8 (=72).10–12.13, der allerdings eine eigenwillige Neuzusammenstellung nicht nur neutestamentlicher Schriften bietet.103 Interessant ist der Kodex für das Thema dieser Studie aber wegen des verzierten Friedenswunsches für den Schreiber und den LeserLeser, der jeweils unter der subscriptio mit dem Titel geschriebenSchriftGeschriebenes wurde: ειρηνη τω γραψαντι και τω αναγινωσκοντι. Ob der Schreiber sich hier selbst Frieden wünscht, er den Wunsch aus seiner VorlageVorlage abschreibt oder an einen zukünftigen Schreiber denkt, braucht hier nicht entschieden zu werden.104 Aufschlussreich ist, dass der FriedenswunschFriedenswunsch nicht etwa die auch in christlichen Quellen verbreitete Fachbezeichnung für einen VorleserVorleser/SekretärSekretär ἀναγνώστηςἀναγνώστης verwendet, sondern das PartizipPartizip von ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω, das für gewöhnlich den (individuellen) RezipientenRezipient meint105

      So gut wie alle neutestamentlichen griechischen Hss.Handschrift/Manuskript (und von Beginn der Überlieferung an auch die lateinischen Hss.; ferner auch die anderen Versionalhandschriften) weisen die bekannten und vor allem bezüglich ihrer Herkunft und Funktion viel diskutierten Nomina sacra auf.106 Bei den Nomina sacra handelt es sich um Kontraktionskürzungen einiger wichtiger Namen in den neutestamentlichen Schriften, die mit einem Strich über der Abkürzung graphisch markiert werden. Diese recht eigenwillige Form der Abkürzung kann weder aus dem Gebrauch des TetragrammsTetragramm abgeleitet werden noch steht sie in einem Zusammenhang mit der Ersparnis von Platz oder von Zeit beim SchreibenSchreiben. Die Form entspricht auch nicht den gängigen Abkürzungskonventionen in der Antike, die vorrangig durch Suspensionskürzungen geprägt waren, wobei unterschiedliche Formen der Markierung – selten auch ein Strich über der Abkürzung analog zu den Nomina sacra – verwendet wurden. Zudem ist ein höherer Standardisierungsgrad erkennbar, vergleicht man den Variantenreichtum der situationsbezogenen Abkürzungspraxis in der Antike.107 Innerhalb der Uneinheitlichkeit der Anzahl und Stringenz der Abkürzungen in den Hss. kann ein gemeinsamer Bestand von vier Wörtern extrapoliert werden (Θεός, Κύριος, Ἰησοῦς, Χριστός), die wohl in allen neutestamentlichen Hss. relativ regelmäßig kontrahiert werden (, jeweils im Genitiv usw.). Der Befund ist dahingehend klar, dass das System der Nomina