Jan Heilmann

Lesen in Antike und frühem Christentum


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notwendige Verstehensvoraussetzung. Das forschungsgeschichtlich vielfach postulierte Junktim der vokalisierenden Lektüre mit dem SchriftsystemSchrift-system basiert auf einem Zirkelschluss1 und lässt sich insbesondere nicht an den Quellen nachweisen. Scriptio continua ist kein Kennzeichen eines defizitären Schriftsystems, sondern eine kulturelle Konvention. Entscheidend ist, dass die Leser von Beginn an mit dem Schriftsystem sozialisiert worden sind.2 Kognitive Schwierigkeiten ergeben sich für Leser, die in einem Schriftsystem mit Wortzwischenräumen sozialisiert wurden und daher die kognitiven Mechanismen des Lesens von Texten in scriptio continua nicht habitualisiert haben. Es verbietet sich daher methodisch, unsere Schwierigkeiten beim Lesen von antiken Artefakten zurückzuprojizieren.

      Daraus ist weiterführend zu schlussfolgern, dass die These, antike scriptio continuaSchriftscriptio continua sei lediglich die Repräsentation des gesprochenen Wortes, das im Leseprozess „re-oralisiert“ würde, bzw. die scriptio continua in Analogie zu notierter MusikMusik verstanden werden könne,3 äußerst problematisch ist und auf demselben Zirkelschluss basiert. Es ist methodisch verfehlt, eine solche generalisierende Sicht aus vereinzelten MetaphernMetapher (z.B. dass Seiten oder InschriftenInschriften sprechen oder die BuchstabenBuch-stabe lautLautstärkelaut sind)4 herzuleiten. Solche vereinzelten Metaphern sind, so lange man nicht ein umfassendes Konzept nachweisen kann, zunächst einmal als rhetorische und poetische Stilmittel zu verstehen. Und selbst bei einem metaphorischen Konzept wie z. B. dem von sprechenden Texten sind die methodischen Hürden für Rückschlüsse auf die LesepraxisLese-praxis hoch, wie Existenz dieses Konzepts z.B. in der modernen deutschen Sprache belegt.5

      5 Publikation in der Antike und Verfügbarkeit von Literatur

      VorabPublikation/Veröffentlichung ist darauf hinzuweisen, dass die in der Forschung breit bearbeitete spezielle Frage nach der Verfügbarkeit von Büchern über antike (öffentlicheÖffentlichkeitöffentlich) BibliothekenBibliothek sowie deren Benutzung und die Verbreitung von Privatbibliotheken hier ausgeblendet wird.1 Ob und ab welchem Zeitpunkt christliche Schriften in öffentlichen Bibliotheken zur Verfügung standen wissen wir nicht. Die Frage nach christlichen Privatbibliotheken2 lässt sich für die Frühzeit ebenfalls nicht anhand archäologischer Zeugnisse oder direkter Quellenevidenzen bearbeiten, sondern hängt maßgeblich an den im Folgenden zu diskutierenden Fragen. Es sei aber auf eine aufschlussreiche Stelle verwiesen, in der über die Beschaffung von Literatur über eine öffentliche Bibliothek berichtet wird. Und zwar sucht Aulus GelliusGellius, Aulus im 2. Jh. n. Chr. eine Schrift des LehrersLehrerLehrer von VarroVarro und CiceroCicero, Marcus Tullius, Lucius Aelius Stilo, der von der Mitte des 2. Jh. v. Chr. bis in die erste Hälfte des 1. Jh. v. Chr. gelebt hat. Diese Schrift, die zum Zeitpunkt der Suche grob um die 200 Jahre alt gewesen sein muss, macht Gellius in der Bibliothek des von Vespasian gebauten Friedenstempels ausfindig (Gell. 16,8,2). Hier ist die Bibliothek ganz klar Aufbewahrungs- und Zugangsort alter BücherBuch und nicht der aktuellsten Literatur.3

      Wie im Einleitungskapitel ausgeführt, findet sich insbesondere in der anglophonen Forschung zum NT und frühen ChristentumChristentum – vor allem bei denjenigen, die sich dem Ansatz des Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism zuordnen, – die These, dass das Phänomen PublikationPublikation/Veröffentlichung in der Antike nichts anderes gewesen wäre, als der erste Akt der Veröffentlichung eines Werkes durch mündlichen Vortrag, der dann entweder von Zuhörern aufgeschrieben, weitergegeben und über privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Netzwerke zirkulierte oder durch das ManuskriptHandschrift/Manuskript des Erstvortrages in Umlauf kam. Diese Sicht steht jedoch in einer Spannung zu zahlreichen Quellenzeugnissen, die sehr wohl auf antike Konzepte von Publikation hinweisen und die nahelegen, dass es einen (sogar kommerziell orientierten) BuchmarktBuch-handel und eine durchaus über die lokale Ebene hinausreichende Verbreitung von Literaturerzeugnissen gab (s. u.). Aber selbst wenn die deutlichen Hinweise auf die Publikations- und Veröffentlichungspraxis in der Antike sowie grundsätzliche Möglichkeit der Distribution von Büchern über den antiken Buchmarkt wahrgenommen werden, ist es für diese Forscherinnen und Forscher ausgeschlossen, dass das frühe Christentum an diesen Mechanismen partizipierte und BücherBuch im frühen Christentum stattdessen ausschließlich privat distribuiert wurden.4 Hinter dieser These steckt die Auffassung, das Christentum des 1./2. Jh. wäre vor allem ein „subkulturelles Phänomen“5 gewesen, das vor allem für Menschen aus unterprivilegierten Schichten attraktiv gewesen wäre. Dabei wird aber ein sozialromantisches Bild v. a. aus dem 1Kor1Kor und Thesen zum historischen JesusJesus abgeleitet und auf das des frühen Christentums als Gesamtphänomen übertragen. Dies ist methodisch problematisch.6 Vielmehr muss, wie im Folgenden herauszuarbeiten ist, die grundsätzliche Möglichkeit, dass neutestamentliche Texte auch jenseits „privater“ ZirkulationZirkulation über den antiken Buchhandel verfügbar waren, zumindest bedacht werden. Lässt sich letzteres nämlich plausibel machen, hätte dies gewichtige Implikationen für die Frage nach den anvisierten und auch den tatsächlichen Formen der Rezeption neutestamentlicher Texte.

      Forschungsgeschichtlich ist das skizzierte Problem der kontrovers diskutierten Frage nach der Verbreitung und DistributionBuch-handel von Literaturerzeugnissen in der Antiken zuzuordnen. Ganz grob finden sich in der Forschung zwei Sichtweisen auf diese Frage, eine modernistische und eine (darauf reagierende) eher skeptische, primitivistischePrimitivismus,7 worin sich in einer weiteren Perspektive eine alte Debatte in der Forschung zur antiken Wirtschaftsgeschichte spiegelt.8 Die ältere, modernistisch ausgerichtete, Forschung zeichnet insbesondere in Anknüpfung an T. Birts monumentales Werk zum antiken Buchwesen9 das Bild eines umfassenden antiken Publikationswesens und BuchmarktesBuch-handel, das u. a. mit Stichworten wie kommerziell orientierten Verlegern, Massenproduktion (durch DiktatDiktat) und Fernhandel zu charakterisieren ist.10 Diese Sicht wurde insbesondere wegen der terminologischen (und damit auch konzeptuellen) Rückprojektion von Buchproduktions- und Distributionsmechanismen aus der Zeit des ausgehenden 19. und 20. Jhs. zurückgewiesen und stattdessen eine primitivistische Sichtweise etabliert, die verlegerische und ökonomisch orientierte Produktions- und Distributionsstrukturen für die Antike weitgehend negiert.11 Thesen zur nahezu ausschließlichen ZirkulationZirkulation von Büchern in privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Netzwerken,12 die auch für das frühe ChristentumChristentum stark gemacht worden sind,13 basieren maßgeblich auf dieser primitivistischen Sichtweise.

      Kristallisationspunkt der Debatte ist vor allem die Rolle von Atticus als „Verleger“ Ciceros.14 An dieser Debatte lässt sich in Kürze zeigen, inwiefern beide Sichtweisen mit Problemen behaftet sind. Während der ältere modernistische Ansatz Atticus tatsächlich zu stark als industriellen Verleger des 19. Jh. zeichnete und insbesondere die vorgestellten Größendimensionen der BuchproduktionBuch-produktion vermutlich deutlich überschätzt wurde, muss die primitivistischePrimitivismus Sichtweise Evidenzen in den Quellen, die zu dem modernistischen Ansatz geführt haben, in unzulässiger Weise marginalisieren. Da beide Positionen wissenschaftlich nicht befriedigend sind, muss die Frage nach dem antiken Publikations- und Distributionswesen von literarischen Erzeugnissen unter Vermeidung zu starker Projektionen aus dem modernen Buchwesen des 19./20. Jh. m. E. grundlegend neu untersucht werden. Erste Ansätze finden sich in der neueren Forschung, die aber bei weitem nicht den gesamten Quellenbestand berücksichtigt.15 Für eine grundlegende Neuuntersuchung müsste zunächst der gesamte Quellenbestand (nicht regional begrenzt auf Rom) hypothesenneutral gesammelt und systematisierend zusammengestellt werden. Dies kann hier freilich nicht geleistet werden. Im Folgenden sind lediglich wenige Grundzüge zu skizzieren.

      Dass die meisten antiken AutorenAutor/Verfasser der hellenistischen Zeit und der Kaiserzeit ein Bewusstsein für die Herausgabe/PublikationPublikation/Veröffentlichung ihrer Werke hatten, ist den Quellen eindeutig zu entnehmen (und wird auch von vielen Vertretern der primitivistischenPrimitivismus Sichtweise nicht bestritten).16 Aus dem genannten Grund ist auch die These von E. Mroczek schwierig, BücherBuch wären in der Antike eher als Projekte denn als Produkte angesehen worden.17 Im Rahmen dieser Studie kann weder ihre These noch die These Larsens, das Markusevangelium sei ein unfertiges und nich-finalisiertes Werk, diskutiert werden.18 Dies wird der Vf. an anderer Stelle ausführlich nachholen. Das Konzept einer vom Verfasser autorisierten Fassung ist in der antiken Welt bekannt: