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PROLOG
Es ist der 8. April 2017, Tag 35, bisher zurückgelegte Kilometer: 1.550. Mit zusammengekniffenen Augen starre ich in eine blendende Leere. Nichts lenkt ab, nichts scheint bedeutsam. Selten im Leben war ich so konzentriert, so fokussiert. Ich fühle meinen Herzschlag, meinen Puls, wie mir das warme Blut die kalten Wangen hinaufsteigt. Ein frostiger Lufthauch überstreicht sie. Ich ziehe meine Gesichtsmaske ein Stück höher. Es ist zwar schon April, doch der Winter ist noch längst nicht vorbei. Ich bin in Sibirien, draußen in den menschenleeren Weiten der arktischen Tundra, weit nördlich des Polarkreises. Das letzte Dorf liegt vier Tagesetappen hinter mir. Wann werde ich das nächste erreichen? Ich weiß es nicht. Zu groß sind die Unwägbarkeiten, ich muss sie nehmen, wie sie kommen. Klagen bringt nichts. Die Einsamkeit schenkt mir Klarheit. Hier draußen zählt nur die Tat. Und so trete ich wieder in die Pedale, setze mein schwer bepacktes Rad in Bewegung, hinter mir einen Schlitten ziehend, und fahre mit nüchternem Blick der tiefstehenden Sonne entgegen. Es gibt nur einen Weg, und der führt nach vorn. Meine Sehnsüchte haben mich hierhergeführt, und sie werden mich auch weiter tragen.
Fahrspur über den gefrorenen Arktischen Ozean.
Seit fünf Tagen schon folge ich dem Fluss Omoloj seiner Mündung entgegen. Straßen gibt es hier keine, der gefrorene Flusslauf gibt die Richtung vor. Ich fahre direkt auf seinem Eispanzer. Eine freigeschobene Schneise im Schnee weist mir den Weg. Seit Stunden sehe ich nichts als Schnee und blauen Himmel – keine Anzeichen mehr von Land. Lediglich ein paar versprengte, weit entfernte Fischerhütten deuten darauf hin, dass es hier noch irgendwo festen Grund geben muss. In der Monotonie der polaren Landschaft schärft sich mein Blick zunehmend für kleine Details. Am Horizont bemerke ich eigenwillige Eisberge, die ihre Form und Größe verändern und dann plötzlich anfangen zu schweben. Werde ich langsam verrückt? Nein – es ist eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung entfernter Hügelketten.
Bei Sonnenuntergang treffe ich auf das Räumfahrzeug, das mich erst gestern, nach mehreren Tagen des Offroad-Radelns, überholt hatte. Es hat zunehmend Mühe, sich durch die harte Schneekruste zu stemmen, und ist nun langsamer als ein Radfahrer im Schnee daneben. Ich umgehe das ratternde Ungetüm und folge der Spur eines Lastwagens, die einzig verbleibende Leitlinie in dieser sonst orientierungslosen Weite. Genau an dieser Stelle entdecke ich ein unscheinbares Holzschild im Schnee. Es ist, als hätte sich jemand einen Scherz erlaubt, als ich die kyrillischen Buchstaben entziffere: Море Лаптевых steht für Laptewsee. Ich bin am Arktischen Ozean angekommen, und das, ohne es zu merken! Denn ob Tundra oder gefrorenes Meer, hier ist alles mit derselben Schneedecke überzogen, ohne erkennbaren Übergang. Voller Faszination, aber auch mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht begebe ich mich hinaus in ein weißes, konturloses Nichts. Lediglich einer Fahrspur folgend, die jederzeit wieder verweht werden könnte. Etwa 220 Kilometer sind es noch bis zur Polarhafenstadt Tiksi – 220 Kilometer über den gefrorenen Ozean – durch die schutzlose Einöde der Arktis. Eine Woche noch, schätze ich, vielleicht aber auch zwei, je nachdem, wie sich Wetter und Piste geben.
Dann erscheint ein schwarzer Punkt am Horizont. Er bewegt sich, wird größer, kommt näher: ein Lastwagen! Er kommt mir direkt vom Meer entgegen. Der erste heute, beziehungsweise der erste überhaupt aus dieser Richtung – ein gutes Zeichen. Ich wuchte mein 100 Kilogramm schweres Gespann aus der Spur, um das Fahrzeug passieren zu lassen. Natürlich stoppen die zwei Trucker und staunen über den Radfahrer, der auf sie wie ein Außerirdischer wirken muss. Und doch wissen sie schon von mir, der Buschfunk funktioniert auch hier draußen prächtig, und so begrüßt mich Nikolaj, der als Erster aus dem Fahrzeug steigt, scherzhaft mit den deutschen Worten: »Hände hoch!« Ich … hebe als Antwort einfach nur die Hände hoch. Gelächter. Kurz darauf sitze ich bei ihm und seinem Kollegen im Fahrzeug und schlürfe heißen Tee. Nikolaj steht voller Begeisterung hinter meiner Idee, mit dem Rad nach Tiksi zu fahren. »Molodets« – »Prachtkerl« – höre ich immer wieder aus seinem Mund. Sein Kollege jedoch scheint mich für bescheuert zu halten, bleibt er doch die ganze Zeit todernst und führt im Verlauf unserer Unterhaltung ein paar Mal symbolisch den Zeigefinger zum Kopf …
In der überhitzten Fahrerkabine wird mir schnell unwohl. Nach und nach reiße ich mir alle Jacken vom Leib und merke, wie sich mein Körper an dieses mittlerweile komplett ungewohnte Klima anzupassen versucht. Ich weiß, dass es nicht allzu lange dauert, bis sich meine innere Heizung abstellt. Falls das passieren sollte, werde ich jämmerlich frieren, sobald ich wieder draußen der Kälte