Richard Löwenherz

Eis. Abenteuer. Einsamkeit


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die Fahrertüren zu, der Motor dreht auf, ein letztes Hupen, und schon machen sie sich wieder davon. Solch herzliche Begegnungen sind hier draußen etwas ganz Besonderes, Inseln der Wärme in einem Land voller Kälte. Gedankenversunken schaue ich ihnen noch lange nach, bis das letzte Motorengeräusch von der arktischen Stille verschluckt wird.

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       Ein Schild kennzeichnet den Übergang vom Festland zum Meer.

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       Insel der Wärme: Begegnung in endloser Schneewüste.

      Umgeben vom Dämmerlicht des Abends, stehe ich nun wieder allein in dieser endlosen Schneewüste. Die Lufttemperatur ist inzwischen auf –25 °C abgesackt. Ich komme mir vor wie ausgesetzt, doch ich bin freiwillig hier. Ein überwältigendes Gefühl überkommt mich im Bewusstsein, den ganzen langen Weg hierher selbst erkämpft zu haben. Es wäre nicht das Gleiche, hätte ich mich mit einem der Fahrzeuge mitnehmen lassen. Ich fühle mich inzwischen eins mit dieser eiserstarrten Welt. Würde sie nicht wollen, dass ich hier bin, hätte sie mich gar nicht erst so weit kommen lassen. Eine starke Zuversicht entwächst diesem Gedanken und lässt mich trotz aller noch bevorstehenden Unwägbarkeiten positiv nach vorn schauen.

      Da es schon spät ist, gehe ich mit meinem Rad nur noch ein kleines Stück. Etwas abseits der Fahrspur stelle ich gegen 11 Uhr abends mein Zelt auf, verankere es windsicher im harten Schnee und koche mir meine obligatorische Nudelsuppe. Laut Karte müsste ich mich jetzt vor dem Kap Uon-Pastach befinden. Zu erkennen ist davon nichts, keinerlei Konturen deuten auf die Küstenlinie hin. Alles um mich herum sieht gleich aus. Der Ostwind hat etwas angezogen und lässt gelegentlich die Zeltwand flattern. Ansonsten bin ich von Totenstille umringt, die nur durch das Fauchen des Kochers und das Knirschen meiner Schritte durchbrochen wird. Am Südhimmel prangt der Vollmond, er wirft ein mystisches Licht über die surreal anmutende Szenerie. Dann flammt ein Polarlicht auf, züngelt in grünen Bögen und Vorhängen über das kalte Firmament, während im Norden die Mitternachtsdämmerung den Beginn der Weißen Nächte ankündigt. Ich genieße das Privileg, hier zu sein, diese friedliche Stimmung in arktischer Schönheit so intensiv erleben zu können.

      Doch die friedliche Stimmung trügt, ein Wetterumschwung deutet sich an.

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       Stimmungsvolle Nacht auf dem Meereis.

      1

      VORBEREITUNGEN IN JAKUTSK

      Flughafen Berlin-Schönefeld. Eine Traube von Polizisten umringt mich. Man verdächtigt mich, Sprengstoff dabeizuhaben. Ein routinemäßiger Abstrich an meinem Fahrrad hat das ergeben. »Hey, Leute, ich will euch ja nicht enttäuschen, aber ihr werdet bei mir nichts finden!« Sie wiederholen den Abstrich – erneut positiv. Es sind die Reifen meines Fatbikes. Das sperrige Ungetüm ist das Einzige, was am Zugang zum Check-in nicht durchleuchtet werden konnte, es passt nicht durch den Gepäckscanner. Man gibt mir zu verstehen, dass ich die Räder ausbauen soll, um zumindest diese scannen zu lassen. Ich reagiere etwas genervt, weil ich schon damit begonnen hatte, das Fatbike flugfertig vorzubereiten: Vorderrad raus, mit Kabelbindern am Rahmen fixieren, Pedale ab, Lenker quer, Schaltwerk sichern, Scheibenbremsen polstern und am Ende alles in einen großen Sack verpacken. Ich war schon fast fertig, doch jetzt soll ich das durchdachte Konstrukt wieder auseinanderfriemeln.

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       Orthodoxe Kirche in der Altstadt von Jakutsk.

      Hastig hole ich beide Laufräder raus und lege sie auf das Band. Prüfende Blicke. Natürlich ist nichts Verdächtiges zu erkennen. Ratlose Blicke. »Was jetzt? Ich muss mich beeilen, sonst hebt mein Flieger ohne mich ab!«, sage ich und baue die Laufräder flugs zurück in das Radpaket. Ich weiß, dass ich damit gleich noch mal zur Sperrgepäckannahme rennen muss. Dort wird es dann noch einmal komplett durchleuchtet. Man lässt mich ziehen, wenn auch ein wenig skeptisch, wie mir scheint. Vielleicht bin ich auf dem Weg zum Flughafen einfach nur durch die Überreste eines alten Silvesterböllers gefahren …

      Nun wird es spannend. Am Check-in bin ich tatsächlich der Letzte. Inständig hoffe ich, dass mein aufgegebenes Gepäck noch rechtzeitig verladen wird. Mein Ziel ist Jakutsk, mit einem Umstieg in Moskau. »Jakutsk? Wo ist das denn?«, fragen mich die Damen, die mir das Ticket ausstellen. Wie bitte? »Jakutsk, das ist die Hauptstadt der größten autonomen Republik Russlands, ganz im Osten, in Sibirien«, erwidere ich mit leicht erstauntem Unterton. »Hmm … Irkutsk sagt uns was, aber Jakutsk? Noch nie gehört, das muss was Neues sein.« Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, sage aber nichts mehr dazu. Vom russischen Bordpersonal hätte ich ein bisschen mehr Kenntnis von den inländischen Zielen erwartet. Egal, Hauptsache, der Pilot kennt die Flugroute.

      In sprichwörtlich letzter Minute erreiche ich meinen Flieger. Doch dann heißt es erst einmal warten. Nach einer Weile ertönt eine klärende Durchsage: »Es gibt Probleme mit dem Gepäck eines Passagiers.« In mir kommt der Verdacht auf, dass dieser ominöse Passagier auf den letzten Drücker ein Fahrrad als Sperrgepäck aufgegeben hat. Ich atme kurz auf und schaue mit betont unschuldigem Blick aus dem Fenster. Dann hebt das Flugzeug endlich ab, mit 20 Minuten Verspätung.

      Am Morgen des 1. März lande ich in Jakutsk. Die Sonne scheint durch diffuse Wolkenschleier, Eisflitter glitzert in der Luft. Als ich hinaustrete, füllen sich meine Lungen mit beißender Kälte, die mir aber alles andere als unangenehm vorkommt. Durch die kontinentale Trockenheit wirken hier –20 °C erträglicher als Temperaturen um den Gefrierpunkt in Berlin. Im Flughafengebäude warte ich auf mein Gepäck. Zwischen unzähligen Koffern erspähe ich schon bald meine zwei großen Packtaschen und nehme sie vom Gepäckband. Auf das Fahrrad warte ich jedoch vergeblich. Ich warte so lange, bis nur noch ein letzter verlorener Koffer seine Kreise dreht. Als das Band schließlich stoppt, rufe ich fragend durch die Luke, ob da noch Sperrgepäck durch die Tür kommt? Man verneint … Mist! Das geht ja gut los, ist aber nach den Verzögerungen in Berlin auch nicht verwunderlich. Ich gehe zur Gepäckaufsicht. Man nimmt meine Daten auf und will mich informieren, sobald das Rad auftaucht.

      Dann rufe ich Maria an, bei der ich eine Unterkunft gebucht habe. Sie will mich mit dem Auto direkt vom Flughafen abholen, und wenige Minuten später ist sie schon da. Wir fahren direkt zu dem Wohnblock, in dem ich mich für ein paar Tage einrichte, um in Ruhe die letzten Vorbereitungen zu treffen. Meine Basis ist zentrumsnah, so kann ich vieles zu Fuß erledigen – Bargeld tauschen, eine russische SIM-Karte beschaffen, mich mit Proviant eindecken und mit Unterstützern meiner Reise verabreden. Auf den stark befahrenen Straßen der Innenstadt herrscht reges Treiben. Dick eingepackt flanieren Junge wie Alte mit bizarr knirschenden Schritten über den festgetretenen Schnee der breiten Gehwege, jeder eine Dampfwolke der ausgestoßenen Atemluft hinter sich herziehend. Während ich mich mitten im tiefsten Winter wähne, ist für diese Menschen bereits der Frühling angebrochen – mit längeren Tagen, höherem Sonnenstand und nicht mehr so tiefen Temperaturen. Ich versuche mir vorzustellen, wie sich der Hochwinter um den Jahreswechsel anfühlen muss: tags wie nachts um –50 °C nebliger Smog, Raureif, Dunkelheit. Da geht der gemeine Städter nur noch vor die Tür, wenn er unbedingt muss, möglichst schnell von A nach B, von einer wärmenden Insel zur nächsten. Verständlich, dass dann ein paar sonnige Tage mit –30 °C am Morgen und –20 °C am Nachmittag schon Frühlingsgefühle auslösen. Das Kälteempfinden hat hier einen anderen Maßstab.

       Jakutsk ist die kälteste Großstadt der Welt, mehr als 300.000 Menschen leben hier, die Hälfte davon Jakuten. Von Künstlern geschaffene Eisskulpturen wachen wie Denkmäler über das Zeitgeschehen, als würde es nie einen Sommer geben.

      Jakutsk ist die kälteste Großstadt der Welt, mehr als 300.000 Menschen leben hier, die Hälfte