Richard Löwenherz

Eis. Abenteuer. Einsamkeit


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geben. Und auf den Märkten wartet schockgefrosteter Fisch auf seine Käufer. Die Wohnblöcke stehen hier alle storchenhaft auf Betonstelen, damit die Abwärme der Gebäude nicht den darunterliegenden Permafrostboden auftaut. Ebenso sind sämtliche Rohre oberirdisch verlegt, was dem Stadtbild zuweilen einen industrieartigen Charakter verleiht. Lediglich das Zentrum um die historische Altstadt sticht heraus – mit seinen großen Plätzen, pompösen Verwaltungsbauten und fein restaurierten Holzhäusern. Zwischen all dem glänzen die blank polierten goldenen Zwiebeltürme einer prunkvollen orthodoxen Kirche. Ein Ort der Kontraste.

      Hier treffe ich mich am Abend mit Larisa, einer Jakutin, die wunderbares Deutsch spricht und im Sommer als Reiseleiterin bei Lenaturflot arbeitet. Ich hatte sie vor zehn Jahren während meiner ersten Radtour quer durch Jakutien kennengelernt. Damals führte sie mich durch das Museum für Landeskunde und erläuterte mir die Geschichte Jakutiens. Dass ich nach all der Zeit noch mal Kontakt zu ihr aufnehmen sollte, verdanke ich einer zufälligen Begegnung in Potsdam bei einem Vortragsabend namens »360° OST« kurz vor meinem Tourstart. In der russlandaffinen Besucherschar traf ich auf Christina, eine junge Frau, die selbst schon mal in Tiksi war – mit einem Kreuzfahrtschiff über die Lena. Ich fragte sie, wie sie an das Permit für Tiksi gekommen war. Die Polarhafenstadt befindet sich nämlich in der arktischen Grenzzone Russlands und darf offiziell nur mit einer Sondergenehmigung des russischen Geheimdienstes FSB besucht werden. Dessen Ableger in Jakutien hatte ich bereits im Dezember angeschrieben, doch meine Mails mit dem Antrag blieben unbeantwortet, die Mailadresse schien nicht mehr gültig zu sein. Im Januar bat ich dann diverse jakutische Reiseagenturen, mir bei der Beschaffung des Permits behilflich zu sein. Doch niemand konnte oder wollte sich darauf einlassen. Zu verrückt erschien ihnen mein Vorhaben, auf eigene Faust und ohne professionelle Begleitung loszuziehen. Sie waren offenbar nicht bereit, mir das nötige Vertrauen entgegenzubringen. Denn wer den Antrag für mich einreicht, hält in gewissem Sinne seinen Kopf für mich hin und trägt Verantwortung für mein Tun.

      Bei einer Flusskreuzfahrt ist die Permitbeschaffung natürlich Teil des touristischen Angebots und wird vom Reiseveranstalter organisiert. Ob ich da jemanden um Hilfe bitten kann, fragte ich Christina. Sie überlegte eine Weile, dann fiel ihr ein: Die Reiseleiterin von dem Schiff, die könnte Bescheid wissen! Sie spreche Deutsch, Larisa sei ihr Name. Larisa? Moment, etwa die Larisa, die ich 2007 bei meinem ersten Besuch in Jakutsk kennengelernt hatte? Ich ließ mir die Mailadresse geben – sie war identisch mit jener, die ich mir vor zehn Jahren in mein Tagebuch notiert hatte. Also schrieb ich sie einfach an, mit Verweis auf unser damaliges Treffen. Prompt kam eine herzliche Antwort. Sie erinnerte sich an mich und war sofort bereit, die nötigen Formalitäten in Erfahrung zu bringen und meinen Antrag direkt im Büro des FSB einzureichen. Eigentlich war das Zeitfenster schon längst abgelaufen, denn üblicherweise dauert die Bearbeitung eines solchen Antrags zwei Monate, bis zu meinem geplanten Tourstart verblieben aber nur noch vier Wochen. Es war die letzte Chance, das Permit für Tiksi zu bekommen. Und tatsächlich – zwei Tage vor meinem Abflug kam die Antwort: der Propusk, wie das Permit auf Russisch heißt, war genehmigt worden! Larisa hatte es bereits abgeholt und musste beim FSB auch ihre Daten hinterlassen. Ich bin ihr zutiefst dankbar für das Vertrauen, das sie mir entgegenbringt – nach all den Jahren und nur einer persönlichen Begegnung.

      Als Dankeschön lade ich sie und einen Freund von ihr zum Essen ein, ins Restaurant Machtal. Hier übergibt sie mir das unterzeichnete Dokument. Und während wir traditionell jakutisch speisen, erzählen wir uns, was wir in den letzten zehn Jahren so erlebt haben. Dabei kommen wir auch auf den jakutischen Tour-Operator Michail Mestnikov zu sprechen, den ich vor zwei Jahren in Jakutsk kennenlernte, als ich mit Robert, einem sibirienerfahrenen Reisegefährten, zu meinem ersten richtigen Wildnisabenteuer durch das Suntar-Chajata-Gebirge aufbrach. Michail half uns damals, eine geeignete Mitfahrgelegenheit zu finden, die uns zum Startpunkt der sechswöchigen Rucksack-Schlauchboot-Tour bringen sollte. Larisa ermutigt mich, ihn auch diesmal zu fragen. Er werde mir sicher helfen, einen Fahrer zu finden. Mein Plan sieht nämlich vor, dass ich nicht direkt in Jakutsk mit dem Rad starte, sondern erst an dem Abzweig, an dem die Winterstraße beginnt, etwa 500 Kilometer östlich von hier, am Rande des Werchojansker Gebirges. Die Strecke dahin ist mir wohlbekannt, befuhr ich sie doch schon 2007 mit dem Rad und 2015 nochmals mit einem Sammeltaxi. Es ist eine gut frequentierte Fernverkehrsstraße, die bis zum Gebirgsrand keine besonderen Höhepunkte bietet. Also warum sich das antun und wertvolle Zeit vergeuden? Ich will dort anfangen, wo es interessant wird – dort, wo ich noch nicht war und wo von Beginn an der Reiz des Unbekannten in der Luft liegt.

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       In den Straßen der Stadt regiert der Frost.

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       Wiedersehen mit Larisa und Michail.

      Am nächsten Tag gehe ich unangemeldet in das Büro der Tourfirma Nordstream[1]. Michail erkennt mich sofort wieder und lässt seine Arbeit spontan ruhen. Es ist ein herzliches Wiedersehen, das von großem gegenseitigen Interesse geprägt ist. Michail organisiert teils anspruchsvolle Wildnis- und Raftingtouren durch die schönsten Regionen Jakutiens, die er auch regelmäßig begleitet, und kennt sich gut aus mit den Gepflogenheiten abseits der Zivilisation. Klar, dass er vor zwei Jahren auch den Verlauf unserer Wildnistour durch das Suntar-Chajata-Gebirge mitverfolgt und einige unserer Abenteuergeschichten mitbekommen hat – die Begegnungen mit hungrigen Bären, unsere Trennung mitten im Nirgendwo, die entkräftete Rückkehr … Wir waren früh in der Saison gestartet, eigentlich zu früh, um problemlos über den bis zu 3.000 Meter hohen, noch im Schnee liegenden Gebirgszug zu gelangen, denn erst dahinter lag der Fluss, auf dem ein 500 Kilometer langes Rafting zum Ochotskischen Meer folgen sollte. Alle erfahrenen Wildnisgänger, die wir um eine Einschätzung zur Durchführbarkeit baten, machten uns wenig Hoffnung. Wir sind trotzdem losgezogen, allerdings kamen wir nur mit deutlicher Verzögerung voran, sodass wir am Ende unseren Proviant strecken mussten, um wieder heil aus der Sache rauszukommen. Und nun erzähle ich Michail von meinem neuen Vorhaben, das für einen Moment auch seine Vorstellungskraft sprengt. Mit dem Fahrrad bis Tiksi!? Im Winter!? Allein!? Er werde mir auf jeden Fall helfen und mich informieren, sobald er einen Fahrer findet, der mich in einem Sammeltaxi zum Startpunkt der geplanten Radtour bringen würde.

      Inzwischen ist auch mein Fahrrad eingetrudelt, das mir vom Flughafen direkt zur Unterkunft gebracht wurde. Ich bin sichtlich erleichtert und checke den Zustand: alles da, alles ganz. Nur an der Lenkertaschenhalterung ist eine Ecke abgebrochen, mit dem darunter montierten Gepäck sollte sie aber genug gestützt sein. Jetzt kann ich auch endlich einen Termin nennen, an dem es losgehen soll. Ich gebe Maria Bescheid, dass ich nur noch zwei Nächte in der Unterkunft bleibe. Dann fahre ich mit einem der vielen Linienbusse zu einem riesigen Supermarkt am Stadtrand und besorge mir den Proviant für die erste 900 Kilometer lange Radetappe. Ich rechne mit drei, maximal vier Wochen, ehe ich wieder eine größere Siedlung mit Einkaufsmöglichkeit erreiche. Für die Hauptmahlzeiten plane ich Nudeln, Hafer, Grieß, Rosinen, Zucker und Butter ein, als Snacks Räucherkäse, Salami, Speck, Knäckebrot, Zwieback, Kekse, Lebkuchen, Halva und ein paar Müsliriegel – 13 Kilogramm kommen zusammen. Aus Berlin hatte ich zudem schon mitgebracht: Ei- und Milchpulver, Trockengemüse, Tütensuppen, Salz, Gewürze, Knoblauch, Trockenobst, Nüsse, etwas Schokolade und ein Fläschchen Honiglikör, was für die gesamten sechs Wochen reichen muss, da sich derlei »Luxus« unterwegs nur schwer oder gar nicht auftreiben lässt. Und wenn doch, dann nicht unbedingt in der gewünschten Qualität oder Portionierung. Am nächsten Tag hole ich mir noch drei Liter Benzin von einer Tankstelle, um jederzeit autark kochen zu können. Und Signalpatronen für den Fall, dass ich am Ende der Tour noch auf Eisbären treffen sollte.

      Dann ein Anruf von Michail. Mit