Richard Löwenherz

Eis. Abenteuer. Einsamkeit


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eingeladen bin. Als ich dort aufkreuze, heißt mich eine Männerrunde mit diversen Reportern zu Pizza und Kompott willkommen. Michail hat eine kleine Pressekonferenz organisiert, damit die lokalen Medien über mein ungewöhnliches Reisevorhaben berichten können. »Ihr solltet mich interviewen, wenn ich zurück bin«, sage ich. Es widerstrebt mir, etwas an die große Glocke zu hängen, noch bevor der erste Schritt getan ist. Ja, ich will unbedingt nach Tiksi, aber ich habe mir noch einen Plan B und C zurechtgelegt, falls es doch anders kommen sollte. Es gibt einfach zu viele Unsicherheiten, um heldenhaft dieses eine Ziel zu verkünden, so als wäre die Tour nur dann erfolgreich, wenn ich Tiksi tatsächlich erreiche. Nein, der Weg ist das Ziel! Der Weg durch den unbekannten, im Sommer unzugänglichen jakutischen Norden. Das Erlebnis, dort unterwegs zu sein, zählt. Das versuche ich ihnen irgendwie klarzumachen, und so lasse ich mich doch noch breitschlagen, ein paar Antworten zu geben.

      Auf Englisch komme ich mit Ivan ins Gespräch. Ich erzähle ihm, dass ich vom Abzweig bei Chandyga nordwärts bis nach Tiksi fahren möchte, und dass die Idee schon mindestens acht Jahre alt sei. Im Netz habe ich viel über diese Route recherchiert, sie wurde schon von einigen Autoexpeditionen bewältigt. Radfahrer scheinen es noch nicht versucht zu haben, zumindest fand ich keinerlei Hinweise. Mein Plan ist nun, in sechs Wochen rund 1.800 Kilometer zu überwinden. Ich rechne damit, etwa 50 Kilometer am Tag zu schaffen, solange die Straßenverhältnisse gut sind, und 20 bis 30 Kilometer, wenn die Bedingungen nicht so optimal sein sollten. »Und was nimmst du alles mit?«, will er schließlich noch wissen. »Das Übliche: ein Zelt, einen Schlafsack, Kleidung, Essen. Aber alles zusammen wiegt mehr als 100 Kilogramm, einschließlich des Fahrrads.«

      Tags darauf erscheint das komplette Interview auf den Internetseiten von Yakutia Info und Yakutia Travel[2]. Bei Letzterem wird im Hauptmenü sogar eine zusätzliche Verlinkung mit dem Subtitel »Ричард Левенхерц« (»Richard Löwenherz«) eingefügt, damit der interessierte Leser mit nur einem Klick zu einer interaktiven Karte gelangt, auf der er meine Route tagesaktuell nachverfolgen kann. Es ist geplant, dass ich die Koordinaten meiner Übernachtungsplätze an den Redakteur sende und er diese dann in die Karte überträgt. Die Kunde von meiner geplanten Radreise sollte sich also gut verbreiten.

      AUFBRUCH ZUM STARTPUNKT

      Gegen 10 Uhr am Vormittag stehe ich bei –20 °C mit meinem Rad sowie dem ganzen Gepäck vor dem Häuserblock meiner Unterkunft und warte auf das von Michail organisierte Sammeltaxi. Es dauert eine Weile, anderthalb Stunden vergehen, bis der Fahrer endlich aufkreuzt – sibirische Pünktlichkeit. Aber dann geht alles ganz schnell. Rad und Gepäck werden in wenigen Minuten auf dem Dach verzurrt, ich übergebe die erste Hälfte des vereinbarten Fahrpreises, und schon sausen wir los. Zunächst quer durch die Stadt, um die übrigen Fahrgäste einzusammeln, dann an einem Ausrüstungsladen vorbei, in dem ich mir für den Notfall noch eine Gaskartusche hole. Schließlich verlassen wir Jakutsk und fahren über das Eis der gefrorenen Lena. Die freigeschobene Schneise wirkt wie eine normale Hauptverkehrsstraße in einer weißen weiten Ebene. Doch links und rechts des Weges ragen aufgeschobene Eisschollen aus dem Schnee und erinnern daran, dass unter uns das Wasser des größten Stroms Sibiriens dahinfließt. Am anderen Ufer gelangen wir auf die berüchtigte Kolyma-Trasse, die einst unter der Herrschaft Stalins von Gulag-Häftlingen unter unmenschlichen Bedingungen erbaut wurde und aufgrund der vielen Todesopfer auch »Straße der Knochen« genannt wird. Bis heute ist sie die einzige ganzjährig befahrbare Straße, auf der man in die unermesslichen Weiten des Fernen Osten Russlands vordringen kann. In der dünn besiedelten Bergwildnis rund um den namensgebenden Fluss Kolyma führt sie vorbei an ehemaligen Gulags, devastierten Siedlungen und Goldgräbercamps, um nach 2.000 Kilometern am Pazifik, in der Hafenstadt Magadan, ihr Ende zu finden. Etwa auf halber Strecke liegt Ust’-Nera, das Ziel meiner Fahrgemeinschaft. Sieben Leute teilen sich die Fahrt, den Letzten sammeln wir in Nizhnyj Bestjach ein. Wir durchqueren die jakutische Tiefebene mit ihren weiten Waldgebieten und passieren etliche kleinere Dörfer. Hölzerne Blockhütten mit rauchenden Schornsteinen und im Schnee grasende Kleinpferde prägen das Landidyll. Man hat den Eindruck, in eine vergessene Welt abzutauchen, unvergleichbar mit dem städtischen Leben in Jakutsk.

      Als wir einen etwas größeren Ort durchqueren, pausieren wir in einem Straßencafé und stärken uns mit einer Portion Kantinenfutter. Das Angebot der Küche ist einfach, aber deftig, genau nach meinem Geschmack. Zu trinken gibt es wie so oft in Russland Mors, ein Beerensaftgetränk mit Preiselbeeren. Während wir uns die Bäuche vollschlagen, verdichten sich am Himmel die Wolken – ein leichter Flockenwirbel setzt ein. Seit unserem Start in Jakutsk sind auch die Temperaturen spürbar gestiegen und liegen nun im einstelligen Minusbereich. Ein Tiefdruckgebiet scheint milde Luftmassen vom Ochotskischen Meer ins Landesinnere zu verfrachten. Etwas, das in diesem hochkontinentalen Klima nur sehr selten vorkommt, da mehrere Gebirgszüge am Übergang zum Pazifik eine natürliche Barriere bilden und einen maritimen Wettereinfluss im jakutischen Inland kaum zulassen. Nun scheint aber mal Bewegung in die sonst still daliegende Kaltluftzone zu kommen.

      Wir fahren weiter nach Osten. Kurz vor dem Ort Chandyga erreichen wir in der Abenddämmerung den Aldan, ein weiterer Strom, der irgendwann in die Lena mündet und wie jeder Fluss hier im Winter komplett gefriert. Die Überfahrt auf dem Eis ist diesmal etwas holprig, nur auf der abgesackten Eisfläche der Flussmitte fährt es sich ganz gut. Im Sommer kommt man wie an der Lena nur mithilfe einer Fähre auf die andere Flussseite. Als ich hier bei meiner ersten Jakutien-Reise im Herbst 2007 mit dem Rad ans Ufer rollte, drängelten sich bereits mehrere Fahrzeuge um den Anleger. Warum, wurde schnell klar, denn die Fähre querte den Fluss nur zweimal am Tag – einmal morgens und einmal abends. Entsprechend groß war das Gerangel, um sich einen Platz für die Überfahrt zu sichern. Dass es jetzt im Winter eine Straße über das Eis gibt, macht die Lage natürlich viel entspannter.

      In Chandyga kehren wir noch einmal ein. Ich nutze die Gelegenheit, ein letztes Mal mit meiner Freundin Ania zu telefonieren. Später würde es kein Netz mehr geben, wahrscheinlich auf den gesamten 900 Kilometern der ersten Etappe, also etwa drei Wochen lang. In dieser Zeit können wir nur über meinen Satellitenmessenger, ein DeLorme InReach, kommunizieren. Textnachrichten via Satellit sind möglich, Gespräche jedoch nicht. Sie hat Vertrauen in mein Vorhaben und macht sich zum Glück keine unnötigen Sorgen. Allerdings ist sie nicht gerade erfreut, dass ich schon wieder für so lange Zeit aus dem gemeinsamen Leben ausbreche, war ich doch erst im vergangenen Sommer für drei Monate in der nordsibirischen Wildnis unterwegs. Eine Auszeit von einem Monat fände sie noch in Ordnung, aber sieben Wochen oder gar zwei, drei Monate? Ich verstehe ihre Perspektive, ihren Wunsch nach mehr Beständigkeit, doch mich zieht es immer wieder hinaus, um etwas Unbekanntes auf eigene Faust zu entdecken, etwas Neues mit allen Sinnen zu erleben – da reicht ein einzelner Monat oft nicht aus, vor allem, wenn es in so abgelegene Gebiete geht wie jetzt.

      Nach neun Stunden Fahrt erreichen wir endlich den Abzweig, an dem ich meine Radtour starten möchte. Es ist bereits stockduster, im Lichtkegel der Scheinwerfer erkenne ich nur das Schild, das auf die Orte nördlich der Trasse verweist, daneben schemenhaft die Umrisse der tief verschneiten Lärchentaiga. Ich sage dem Fahrer, dass er mich hier absetzen kann, ich würde mich schon zurechtfinden. Das erscheint ihm offenbar etwas zu suspekt, und so steuert er kurzerhand auf eine Einsiedlerhütte zu, die es vor zehn Jahren an dieser Stelle noch nicht gab. Es wird gehupt, bis ein Mann vor die Tür tritt. Schließlich kommen sie ins Gespräch und handeln irgendwas aus. So wie es scheint, soll ich die Nacht in der Hütte verbringen und nicht irgendwo im Wald. Ich füge mich den Umständen, verabschiede mich von meiner Fahrgemeinschaft und deponiere meinen ganzen Krempel an der Hauswand.

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       Mit einem Sammeltaxi lasse ich mich an den Rand des Werchojansker Gebirges bringen.

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       Abendliche Ankunft an Valodias Haus, das früher ein Truckercafé