Hartmut Blum

Alte Geschichte studieren


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und der Regenmangel, die Korruption, Dezentralisation, Prostitution und Bodenerosion, der Ruin des Mittelstandes und die Traurigkeit, die Degeneration des Intellekts, die Freiheit im Übermaß, die Selbstgefälligkeit, Impotenz oder auch nur die unnützen Esser – die vorgebrachten Gründe für den „Fall Roms“ scheinen unermesslich zu sein und haben sowohl ihn als auch die seit anderthalb Jahrtausenden fortdauernde Suche nach seinen Ursachen selbst zum Fall werden lassen. Und wer angesichts der unterschiedlichsten Antworten in ‚Resignation‘ verfällt oder ‚Nichternst‘ vermutet, wird feststellen müssen, dass Vorgängern und Zeitgenossen in gleicher Seelenlage eben dieses zum Kern ihrer Beschäftigung mit dem Fall Roms geriet. Durch diese Erkenntnis ist der Leser aber auch schon einem zentralen Anliegen des Buchs von Alexander Demandt nähergekommen.

      1.3.4 Die Antike als das ,nächste Fremde‘

      Eine besondere Rolle kommt der Beschäftigung mit der Antike durch ihre Stellung in dem uns zugänglichen Wissens- und Erkenntnishorizont zu, eine Position, die Uvo HölscherHölscher, Uvo, in einer oft aufgenommenen Formulierung, die Antike als das „nächste Fremde“ bezeichnen ließ. Ausgedrückt werden soll damit, dass uns die Antike in vielem eigentümlich vertraut und doch zugleich fremd ist. Vieles hat aus der Antike bis in unsere heutige Zeit reichende Traditionslinien entwickelt, die uns in gegenläufiger Richtung den Blick auf das Altertum erleichtern. Doch auf der anderen Seite sehen wir dabei auch immer wieder eine uns eigenartig fremd erscheinende, oft verschlossen bleibende Kultur. So entwickelt sich ein Spannungsverhältnis von Eigenem und Fremdem, von Bekanntem, doch fremd gewordenem, von Dingen, die wir noch verstehen, und anderen, wo dieses nicht mehr gesichert oder möglich ist. Die so bei der Betrachtung der Antike gewonnenen Erfahrungen sind von genereller Relevanz für die Begegnung mit fremden Kulturen: für die Erfassung kultureller IdenIdentitäten, Bewusstmachung der eigenen Lebensweise und Perspektiven sowie die angemessene Einordnung kultureller Unterschiede.

      1.3.5 Relative Einfachheit und Abgeschlossenheit

      Als weitere paradigmatische Eigenschaften der Antike gelten die relative Einfachheit ihrer Strukturen und Geschehensabläufe sowie ihre Abgeschlossenheit. Christian MeierMeier, Christian spricht von einer „relativen Naturnähe“ der Antike: Der bei einer solchen Bewertung durchscheinende Entwicklungsgedanke wird sicherlich die meisten von einer derartigen qualitativen Zuweisung der Antike zurückhalten. Doch gemessen an dem radikalen Veränderungstempo und der Komplexität unserer globalisierten Gegenwart wird man die Bewertung vielleicht cum grano salis akzeptieren können. Die Abgeschlossenheit der Ereignisse und Prozesse bietet schließlich für die historische Analyse einen optimalen Rahmen: Jeder Akt in der Antike kann auch auf seine kurz- und langfristigen Folgen, auf Intendiertes und Nichtintendiertes untersucht und so von verschiedenen Seiten, aus der Perspektive der Handelnden und ex eventu bewertet und verglichen werden. Gerade in der Zeitgeschichte ist dieser souveräne Blick auf abgeschlossene Entwicklungen in aller Regel nicht möglich – und notwendigerweise zwingen nicht vorhersehbare Folgen zu manch neuer Bewertung vergangener Ereignisse.

      Die Abgeschlossenheit ermöglicht in Verbindung mit der zeitlichen Distanz schließlich auch erst die genauere Erfassung von grundlegenden PARADIGMENWECHSELN in der politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Entwicklung. Relative Einfachheit und Abgeschlossenheit erleichtern weiterhin die ModellbildungModellbildung zur Skizzierung historischer Prozesse. Weitet man die Kenntnis dieser ParadigmenwechselParadigmenwechsel auf die Rezeptionsphasen aus, so tritt mit dem Vorbeiziehen der wechselnden zeitgenössischen Fragestellungen, der quellen- und methodenbedingten Einflüsse, von Standortgebundenheit beteiligter Personen, Personengruppen, Gelehrtenschulen oder Nationen in den verschiedenen Generationen auch die historische Bedingtheit der eigenen Erkenntnisinteressen und der Erkenntnismöglichkeiten scharf hervor (→Kap.3.1.4–3.1.6).

      1.3.6 Methodische Dichte

      Schließlich ist für das Arbeiten in der Alten Geschichte die besondere methodische Dichte hervorzuheben: Die relative Quellenarmut wird zur Tugend, da zur Beantwortung einer Fragestellung in der Regel alle verfügbaren Quellengruppen, d.h. literarische, epigraphische, numismatische, archäologische Zeugnisse etc. gleichzeitig herangezogen, auf ihren jeweiligen Aussagewert untersucht und gegenseitig gewichtet werden müssen – die dann wiederum oft erst durch Vergleiche oder Modelle verständlich gemacht werden können. Für Studierende ist in der Alten Geschichte der Umgang mit den Quellen besonders gut zu lernen, ja, in der breiten Erschließung und dichten Auswertung der Quellen sowie in ihren interdisziplinären Zugängen kann der Alten Geschichte innerhalb der Geschichtswissenschaften geradezu der Rang eines methodischen Exerzierfelds zukommen. Ausdrücklich ist dafür auch auf das oft über Generationen reichende Bemühen um das Verständnis derselben Quellen hinzuweisen. Die Betrachtung des Forschungsgangs bettet das eigene Verständnis in einen langen Diskussionsprozess ein, vor dem es sich als erstes zu bewähren hat. Diese ständige Auseinandersetzung mit einer Vielzahl vorliegender Deutungen, mit ihrer Anordnung und Auslegung vor dem Hintergrund veränderter zeitgenössischer Kenntnisse und Interessen und die Feststellung der Faktoren, die zu veränderten Perspektiven führten – all dieses ließ Dieter TimpeTimpe, Dieter vor einigen Jahrzehnten gar von einem insgesamt höheren Reflexionsgrad sprechen, der das Arbeiten in der Alten Geschichte auszeichne.

      Die Kehrseite der vorgegebenen Konzentration auf die Quellen ist allerdings das ‚Hinausdenken‘. So bewahrt die in der Alten Geschichte verbreitete Weiterverwendung der Sprache der Quellen größtmögliche begriffliche Genauigkeit, auf der anderen Seite erschwert sie jedoch die Kommunikation mit Nachbarwissenschaften und behindert Einordnungen auf einer höheren Abstraktionsebene sowie Vergleiche. Und auch für die Theorieentwicklung hat die Alte Geschichte sicherlich mehr Impulse von außen erfahren, als sie selbst Impulse gegeben hat.

      1.3.7 Tendenz zur UniversalgeschichteUniversalgeschichte

      Allein der Kernbereich der Alten Geschichte deckt einen Zeitraum von beinahe anderthalb Jahrtausenden ab. Für ein adäquates Verständnis der Voraussetzungen und die Würdigung antiker Gesellschaften nützlich ist ferner eine gewisse Kenntnis der frühen Hochkulturen. Gleichfalls als Gegenstand der Alten Geschichte hinzu treten die nachfolgenden Traditionslinien, wie etwa die Rezeptionsphasen in RenaissanceRenaissance und KlassizismusKlassizismus. Und schließlich ist jedes wissenschaftliche Arbeiten in der Alten Geschichte durch die notwendige Auseinandersetzung mit den teils über Jahrhunderte reichenden Bemühungen um dieselben Quellen stets ein Stück WissenschaftsgeschichteWissenschaftsgeschichte, die nur vor dem Hintergrund einer breit angelegten historischen Bildung verstanden und für die Interpretation mit Gewinn herangezogen werden kann.

      Diese oft hervorgehobene Tendenz zur Erweiterung ihres Gegenstands wird durch die Vielfalt der von der Alten Geschichte behandelten Kulturen noch einmal besonders signifikant: Sowohl die griechische Geschichte mit ihren Kolonisationsbewegungen als auch der HellenismusHellenismus und die Geschichte Roms mit ihren militärischen Unternehmungen sind gekennzeichnet durch raumgreifende Expansionsphasen. Die Griechen und Römer drangen in weit entfernte Gebiete mit unterschiedlichsten naturgeographischen Voraussetzungen und mit nicht weniger divergierenden Lebensweisen und kulturellen Traditionen der Bewohner vor: Kleinasien, das Schwarzmeergebiet und das westliche Mittelmeer; Syrien, Arabien, ÄgyptenÄgypten, das Zweistromland und die Regionen bis zum Hindukusch; Nordafrika, die keltischen und germanischen Gebiete Nordeuropas und die britischen Inseln.

      Das Aufeinandertreffen unterschiedlichster Kulturen, die Wahrnehmung der Fremdheit, Ausgrenzungen oder kulturelle Annäherungen und Vermischungen sind ein elementarer Bestandteil der Geschichte der Antike. Um zwei in der Gegenwart zu Schlagwörtern geronnene Ambivalenzen zu nennen: Die ,Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ war in den antiken politischen Systemen und Kulturen stets ebenso präsent wie die ,Vielfalt in der Einheit‘. Wenn für dieses Potential in der Forschung der möglicherweise noch größere Räume assoziierende Begriff UNIVERSALGESCHICHTEUniversalgeschichte gewählt wird, so erklärt sich dieses allerdings auch aus einer bewussten Abgrenzung zu den lange vorherrschenden nationalstaatlichen Perspektiven der Geschichtsschreibung. Die gegenwärtig von