Hartmut Blum

Alte Geschichte studieren


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ist in den letzten Jahrzehnten die ‚KulturgeschichteKulturgeschichte‘ mit ihren vielfältigen Themen: Alter, Alltag und GenderGender; Familie und Mentalitäten, Formen der Kommunikation und Repräsentation und anderes mehr (→ Kap.4.4). Innerhalb der Alten Geschichte nahmen und nehmen zudem geographische Schwerpunktsetzungen zu, um in diesen Regionen unter Berücksichtigung aller Quellen zu möglichst dichten Beschreibungen zu gelangen: Neben der Historischen Geographie (→ Kap.4.2) hat sich vor allem die Geschichte der römischen Provinzen zu einem eigenen, eng mit den Grundlagenwissenschaften und der Archäologie verbundenen Bereich entwickelt.

      Ein nicht immer überschaubares, teils wuchernd erscheinendes Wachstum hat sowohl in den 1970er-Jahren (als von der Studentenbewegung eingeforderte Reflektionsphase) als auch in den 1990er-Jahren (im Zuge organisatorischer Fragen der Wiedervereinigung, dann aber auch eines europäischen Identitätsdiskurses) zu vermehrten Bestandsaufnahmen des Fachs, Selbstreflektion und Legitimationsbemühungen geführt. Insbesondere Christian MeierMeier, Christian hat schon früh vor einer Vereinzelung und Isolierung der einzelnen Forschungsfelder als Kehrseite der hochgradigen Spezialisierung gewarnt. Sie würden eine Kommunikation selbst der Fachwissenschaftler untereinander kaum mehr ermöglichen. Forderte Meier allerdings noch eine angemessene Relation zwischen Spezialforschung und ,Ganzem‘, so ist zuletzt bereits vor einem ,zu viel‘ und einer Krise durch – zumindest falsches – Wachstum gewarnt worden: Wissenschaftlich gehe angesichts gebundener und hoch spezialisierter Kapazitäten nicht nur die gegenseitige Überprüfbarkeit verloren, sondern aufs Ganze gesehen seien auch Sinn und innerer Zusammenhang der jeweiligen Studien kaum mehr vermittelbar–oder gar herzustellen. Ziel der provozierenden Bemerkungen ist es vor allem, an die von der Geschichte zu erwartende Orientierungsfunktion zu erinnern: Denn die forschende Beschäftigung mit der Geschichte dient nicht dem Zweck, ,Lücken‘ zu füllen, sondern neben der Dokumentation ihres Materials – wie sie Kernbestand der Grundlagenwissenschaften ist – hat die Geschichtswissenschaft auf den Orientierungsbedarf der jeweiligen Gegenwart Rücksicht zu nehmen. Insoweit muss jeder seine Beschäftigung mit der Geschichte nicht nur in methodischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die Themenwahl ‚verantworten‘ können.

      Nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung von Fragestellungen ist die jeweilige organisatorische Zuordnung der Alten Geschichte an den Universitäten. Hier spiegeln sich noch heute die doppelten Wurzeln des Fachs: Die Zugehörigkeit zu einem Historischen Seminar oder einem Institut für Geschichte folgt dem universalhistorischen Ansatz und der Idee von der Einheit der Geschichte. Die gemeinsame Einbindung mit Klassischer Archäologie und PhilologiePhilologie sowie ggf. anderen, regional oder zeitlich ausdifferenzierten altertumswissenschaftlichen Fächern oder Grundlagenwissenschaften folgt dem Konzept einer umfassenden Altertumskunde. Die Studiengänge lassen jedoch im Regelfall auch unabhängig von den Organisationsstrukturen oder von räumlichen Gegebenheiten beide Formen der Annäherung an die Alte Geschichte zu, und ebenso die Kombination beider Ansätze: Hier gilt es für jeden, innerhalb der von der TraditionTradition gebahnten Möglichkeiten den eigenen Weg zu finden.

      Literatur

      Zur Bedeutung der Alten Geschichte:

      Ch. Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers, Berlin 1989.

      W. Nippel (Hg.), Über das Studium der Alten Geschichte, München 1993; darin u.a.: Ch. Meier, Was soll uns heute noch Alte Geschichte? (1970), S.323–352.

      E.-R. Schwinge (Hg.), Die Wissenschaften vom Altertum am Ende des 2. Jahrtausends, Stuttgart/Leipzig 1995; darin u.a.: H.-J. Gehrke, Zwischen Altertumswissenschaft und Geschichte. Zur Standortbestimmung der Alten Geschichte am Ende des 20. Jahrhunderts, S.160–195.

      J. Cobet/C.F. Gethmann/D. Lau (Hgg.), Europa. Die Gegenwärtigkeit der antiken Überlieferung, Aachen 2000.

      K.M. Girardet, Die Alte Geschichte der Europäer und das EuropaEuropa der Zukunft. Traditionen, Werte, Perspektiven am Beginn des 3. Jahrtausends, Saarbrücken 2001.

      K.-J. Hölkeskamp u.a. (Hgg.), Sinn (in) der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, darin u.a.: A. Winterling, Über den Sinn der Beschäftigung mit der antiken Geschichte, S.403–419.

      H. Leppin, Das Erbe der Antike, München 2010.

      J. Grethlein, Die Antike – das ‚nächste Fremde‘?, Heidelberg 2018.

      Zur WissenschaftsgeschichteWissenschaftsgeschichte:

      A. Momigliano, Wege in die Alte Welt, Berlin 1981.

      P. Kuhlmann/H. Schneider (Hgg.), Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon (= DNP Suppl. 6), Stuttgart 2012.

      K. Christ, Klios Wandlungen. Die deutsche Althistorie vom NeuhumanismusNeuhumanismus bis zur Gegenwart, München 2006.

      K. Christ, Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1999.

      K. Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982.

      St. Rebenich, Theodor Mommsen, München 2002.

      V. Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Fachs Alte Geschichte 1933–1945, Hamburg 1977.

      B. Näf (Hg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Nationalsozialismus und Faschismus, Cambridge/Mandelbachtal 2001.

      H.P. Obermayer, Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil. Eine Rekonstruktion, Berlin/Boston 2014.

      M. Sommer/T. Schmitt (Hgg.), Von Hannibal zu Hitler. „Rom und Karthago“ 1943 und die deutsche Altertumswissenschaft im Nationalsozialismus, Darmstadt 2019.

      M. Willing, Althistorische Forschung in der DDR. Eine wissenschaftsgeschichtliche Studie zur Entwicklung der Disziplin Alte Geschichte vom Ende des 2.Weltkrieges bis zur Gegenwart (1945–1989), Berlin 1991.

      I. Stark, Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR, Stuttgart 2005.

      Einen Überblick zur Binnengliederung der Alten Geschichte, in dem auf knappem Raum die spezifischen Charakteristika der Epochen souverän herausgearbeitet werden, bietet:

      J. Deininger, Historische Epochen: Antike, in: R. van Dülmen (Hg.), Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt/Main 1990, 2. Aufl. 2003, S.393–412.

      Vgl. auch:

      D. Timpe, Der Mythos vom Mittelmeerraum: Über die Grenzen der alten Welt, Chiron 34, 2004, 3–23.

      Die Bezüge zwischen griechischer und orientalischer Kultur erörtert anhand zahlreicher anschaulicher Beispiele:

      W. Burkert, Die Griechen und der Orient, München 2003.

      J. Wiesehöfer, Alte Geschichte und Alter Orient oder Ein Plädoyer für die Universalgeschichte, in: R. Rollinger u.a. (Hgg.), Getrennte Wege? Kommunikation, Raum und Wahrnehmung in der Alten Welt, Frankfurt 2007, 595–616.

      2 Die Quellen der Alten Geschichte und ihre Hilfs- und Nachbardisziplinen

      Überblick

      Die Aussagemöglichkeiten in der Alten Geschichte hängen natürlich in hohem Maße von der Art und Weise ab, wie das Material beschaffen ist, das uns über diese Zeit überhaupt informiert. Diese Informationen nun, die Quellen der Alten Geschichte, sind äußerst bunt und vielfältig: Wir besitzen literarische Texte, dokumentarische Notizen, zahlreiche Inschriften und Münzen und nicht zuletzt materielle