hielt (De legibus I 1,5), findet man jene kritisch-rationale Distanz zum historischen Gegenstand, durch die man – damals wie heute – die eigentliche Geschichtsschreibung gekennzeichnet sieht. Dabei war Herodot, der sich mit den Perserkriegen (490–479 v. Chr.) und ihrer Vorgeschichte befasste, der Ansicht, er müsse, obwohl er längst nicht alles glauben könne, trotzdem alle Geschichten aufschreiben, die man sich erzähle (Herodot 7,152). Diese Auffassung hat ihm später den Vorwurf eingetragen, leichtgläubig und geschwätzig zu sein (z.B. bei Aulus GelliusAulus Gellius 3,10,11), und bereits der nicht minder berühmte Fortsetzer Herodots, ThukydidesThukydides von AthenAthen (ca. 460–400 v. Chr.), hat seinen Vorgänger – wenn auch ohne ihn namentlich zu nennen – herb kritisiert (Thukydides 1,20–22). Thukydides setzte dem herodoteischen Vorgehen das erklärte Ziel entgegen, durch genaue Überprüfung und Erforschung des Vergangenen die Wahrheit herauszufinden und nur diese dann auch zu präsentieren. Damit formulierte er im Grunde genommen als erster ausdrücklich die Forderung, dass Historiker ihre Quellen kritisch gewichten müssen. Thukydides ist folglich in gewissem Sinne der Vater der QuellenkritikQuellenkritik, und für diesen methodischen Anspruch hat man ihn in der Regel dem Herodot als Historiker vorgezogen. In diesem Zusammenhang hat Wilfried NippelNippel, Wilfried vor einigen Jahren allerdings daran erinnert, dass Herodot, indem er seine Quellen – und dadurch die Grundlage seiner Interpretationen – nennt und dem Leser so zur Überprüfung zugänglich macht, eigentlich viel eher dem modernen Verständnis von WissenschaftlichkeitWissenschaftlichkeit als Transparenz in der Darstellung entspricht als Thukydides, der die von ihm verworfenen Zeugnisse zumeist nicht erwähnt und auf diese Weise eine nachträgliche Revision seiner Ergebnisse mindestens erschwert.
Der griechische Geschichtsschreiber Herodot, römische Kopie eines griechischen Originals des 4. Jhs. v. Chr. Neapel, Museo Nazionale Archeologico
Gleichwohl kann die gewiss berechtigte Rehabilitierung Herodots den Rang des ThukydidesThukydides als Historiker in keiner Weise schmälern. Thukydides hat mit seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.) nicht nur den historischen Gegenstand, den er beschrieb, eigentlich erst selbst erschaffen, als er eine Reihe von Einzelkonflikten in seinem Werk unter diesem Namen als geschichtliche Einheit zusammenfasste. Dadurch, dass er sich, anders als HerodotHerodot, auch sehr stringent auf diesen seinen Gegenstand beschränkte, gilt Thukydides des Weiteren als der Schöpfer der historischen MONOGRAPHIEMonographie. Darüber hinaus begründete er durch sein bewusstes Anknüpfen an den Zeitpunkt, an dem Herodot sein Werk enden ließ, eine seither in der antiken Historiographie häufiger geübte Praxis, nämlich die Selbsteinordnung in eine historia perpetua, eine kontinuierliche Geschichtsdarstellung.
2.2.6 Formen der Geschichtsschreibung und QuellenkritikQuellenkritik
Von der historischen MonographieMonographie, die sich auf ein ganz bestimmtes Thema konzentriert, kann man die so genannte UNIVERSALGESCHICHTEUniversalgeschichte unterscheiden, in der versucht wird, die bekannte Geschichte umfassend abzuhandeln, und von dieser wiederum lässt sich die Lokalgeschichte abgrenzen, deren Horizont entsprechend bescheidener ist. Eine Besonderheit der römischen Historiographie, die sich seit ungefähr 200 v. Chr. entwickelte, ist die so genannte ANNALISTISCHE Darstellungsweise, die sich an eine jahrweise Stoffgliederung anlehnt. All diese verschiedenen ‚Arten‘ der antiken Geschichtsschreibung sind freilich im Grundsatz von Althistorikern gleich zu behandeln: Man muss aus den oben benannten Gründen zunächst die Intentionen eines Autors klären und von dort aus mögliche Bezüge zwischen seinen Absichten und dem Inhalt seiner Darstellung, also Verbindungen zwischen Autor und Werk herstellen. Zu diesem Zweck ist es natürlich ebenso notwendig, sich über die Lebensumstände des jeweiligen Autors zu informieren, da nicht zuletzt diese ihn auch in seinen historiographischen Zielsetzungen prägen können. Dafür stehen im Bereich der Alten Geschichte mehrere handliche Referenzwerke zur Verfügung (→S.63f. und 125), und wer diese konsultiert, wird bei nicht wenigen griechischen und römischen Geschichtsschreibern feststellen, dass sie oft erheblich später, teilweise sogar Jahrhunderte nach den von ihnen behandelten Ereignissen gelebt haben.
2.2.7 QuellenkritikQuellenkritik und ‚Quellenforschung‘
Diese Beobachtung wirft eine weitere Kardinalfrage der QuellenkritikQuellenkritik auf: Woher konnte der Autor überhaupt das wissen, was er uns berichtet? Im Idealfall führt diese Frage zu älteren, den geschilderten Ereignissen näherstehenden Historikern, am Ende vielleicht gar zu Zeitzeugen des Geschehens. Solche Werke sind jedoch oft nicht mehr – oder zumindest nicht mehr vollständig – erhalten: Zum Beispiel wurde das monumentale Werk des Titus LiviusLivius (59 v. Chr.–17 n. Chr.), in dem er die Geschichte Roms von der Gründung der Stadt bis in das Jahr 9 v. Chr. behandelte, so stilbildend und erfolgreich, dass ein Großteil der von ihm verarbeiteten älteren römischen Geschichtsschreibung verloren ging. Hier gilt es nun, die Zuverlässigkeit der jeweiligen Gewährsmänner abzuschätzen, und zwar ebenfalls auf der Grundlage dessen, was man über Leben und Werk der betreffenden Personen in Erfahrung bringen kann. Allerdings sollte diese Art von Quellenforschung nicht zu schematisch vonstatten gehen. Es ist nämlich oft nicht klar, wie viel ein späterer Autor an einer bestimmten Stelle von einem älteren Werk unverändert übernommen hat, und in welchem Ausmaß eigene Umarbeitung vorliegt. Gerade bei Livius hatte eine auf die Spitze getriebene Suche nach den ‚Quellen der QuelleQuelle‘ in der Vergangenheit sogar zur Folge, dass die wesentlichen Fragen aus dem Blick zu geraten drohten: „Allzu oft konzentrierte sich das Bemühen darauf, einzelne Passagen (…) einer bestimmten Vorlage zuzuweisen, wobei das Ergebnis wegen der Schattenhaftigkeit der Vorgänger des Livius in vielen Fällen eine bloße Etikettierung war, ohne ersichtliche Relevanz für die Erforschung der geschichtlichen Ereignisse“ (J. v. Ungern-Sternberg).
Quellenforschung als Selbstzweck, das zeigt sich an diesemBeispiel, führt die Geschichtswissenschaft also eher in eine Sackgasse. Dabei kann die Antwort auf die Frage, ob unsere Quellen wirklich wissen, was sie zu wissen vorgeben, durchaus auch negativ ausfallen. Insbesondere die Berichte über die frühe römische Geschichte bis etwa 350/300 v. Chr. stehen unter dem Generalverdacht, fast völlig frei erfunden zu sein. Ein deutlicher Hinweis auf derartige Geschichtskonstruktionen sind so genannte Doubletten, d.h. beinahe identische Schilderungen verschiedener Ereignisse, sei es in ein und demselben Werk, sei es in verschiedenen Geschichtswerken. Es ist kein Zufall, dass Doubletten gerade in der frührömischen Geschichte häufig vorkommen. Schon LiviusLivius selbst konnte es seinen Vorlagen nicht glauben, dass sowohl die Latiner 340 v. Chr., als auch die Campaner 216 v. Chr. von den Römern angeblich gefordert haben, in Zukunft einen der beiden Konsuln stellen zu dürfen. Er hielt freilich die spätere Forderung für die Imitation der früheren (Livius 23,6,6–8; vgl. Livius 8,5,5), eine Annahme, die nicht unbedingt der historischen Wahrscheinlichkeit entspricht: Man wird bei der Beurteilung der Historizität von Doubletten vielmehr entweder das Erzählmuster insgesamt für eine Fiktion halten oder davon ausgehen, dass eher das ältere Ereignis einem realen jüngeren nachgebildet wurde als umgekehrt. Denn im Grundsatz ging es den römischen Geschichtsschreibern natürlich darum, Wissenslücken in der Frühzeit mit Material aus der besser belegten späteren Periode zu stopfen.
2.2.8 Die antike Biographie
Vergleichbar mit der Geschichtsschreibung im engeren Sinne, und als Quellengattung dementsprechend fast so wichtig wie diese, ist die antike BIOGRAPHIE. Auch Lebensbeschreibungen informieren nämlich, der Natur der Sache folgend, über Ereigniszusammenhänge, und selbstredend sind auch hier die oben erwähnten quellenkritischen Überlegungen anzustellen. Es gibt aber ebenso Unterschiede zwischen Historiographie und Biographie: In antiken Lebensbeschreibungen geht es in erster Linie um Charaktereigenschaften der skizzierten Person, d.h. vor allem um deren Tugenden und deren Laster. Tugenden und Laster offenbaren sich jedoch nach antiker Meinung seltener in geschichtlich bedeutsamen Ereignissen, sondern zumeist in scheinbar unwichtigen Situationen. Beinahe programmatisch formuliert hat dies PlutarchPlutarch von Chaironeia (ca. 46–120 n. Chr.), der wohl berühmteste Biograph des Altertums, der auch heute noch bekannt ist durch