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Stemma der Handschriften des Lukrez von K. Lachmann (1850)
2.2.3 Die kritische EditionEdition
Am Ende der TextkritikTextkritik steht schließlich ein griechischer oder lateinischer Text, der den Kern der ein- oder zweisprachigen modernen EDITIONEN bildet, die heutzutage benutzt werden. Entscheidend ist nun, dass dieser Text – wie aus den obigen Erläuterungen klar hervorgeht – nicht unbedingt mit dem antiken Original identisch sein muss. Es handelt sich vielmehr lediglich um ein Produkt, das nach der mehr oder weniger gut begründeten Meinung des Herausgebenden dem Original so nahe wie möglich kommt. Mit anderen Worten: Der durch die philologisch-kritische MethodeMethode etablierte Text ist eine Interpretation, und er muss daher – auch dies ist ein Gebot der WissenschaftlichkeitWissenschaftlichkeit – als solche gekennzeichnet werden. Es kann nämlich immer der Fall eintreten, dass neue Erkenntnisse oder inhaltliche Erwägungen zum Beispiel eine EmendationEmendation hinfällig machen oder eine vom Herausgebenden nicht berücksichtigte Lesart als sinnvoller erscheinen lassen. Derartige neue Gesichtspunkte können etwa ein neuer Textfund sein, oder ein in der EditionEdition noch abgelehnter Sinnzusammenhang, der aber durch neuere Forschungen plausibler wird. Um hier die philologische Forschung nicht zu behindern, ist es erforderlich, dass der Herausgebende eines Textes seine Optionen und Entscheidungen bei der Textherstellung offenlegt und für jeden nachvollziehbar darstellt. Editionen, die dies gewährleisten, nennt man wissenschaftliche oder kritische Textausgaben. Sie zeichnen sich aus durch eine Einleitung, die die textkritische Arbeit und deren Ergebnisse (vor allem das StemmaStemma) beschreibt, und sie verfügen über einen so genannten textkritischen APPARAT (hinzukommen kann ein Testimonienapparat u.ä.), in dem entweder alle Lesarten zu den verschieden überlieferten Stellen präsentiert werden (positiver Apparat), oder aber nur die von der in der Edition abgedruckten Variante abweichenden Lesarten (negativer Apparat).
Verzeichnis der benutzten Handschriften aus der kritischen Edition der vier Reden Ciceros gegen Catilina
Seite aus der kritischen Edition der vier Reden Ciceros gegen Catilina
Der genaue Wortlaut einer QuelleQuelle (in der Originalsprache!) und, damit verbunden, das Wissen um Abweichungen in der Überlieferung sind nun aber auch für die historische Interpretation von zentraler Bedeutung. Gerade Historiker müssen Bedeutungsnuancen erfassen oder Schlüsselbegriffe und deren Kontext erkennen können. Deswegen ist es für sie wichtig zu wissen, was an einer bestimmten Textstelle im Original gestanden hat oder gestanden haben kann. Manchmal, etwa bei geographischen oder politischen Namen, geht es schlicht darum, korrekt informiert zu sein: Ist die Stelle Cassius Dio 77,13,4 zum Jahr 213 n. Chr. tatsächlich, wie man lange gesagt hat, die früheste Erwähnung des Stammes der AlamannenAlamannen? Ein Blick in die EditionEdition von Boissevain (III 388ff.) klärt darüber auf, dass der Alamannenname hier später eingefügt wurde – das allerdings bedeutet, dass es die Alamannen zu Dios Zeiten möglicherweise noch gar nicht gab, oder sie zumindest noch nicht in den Gesichtskreis der Römer getreten waren. Dieses und ähnliche Beispiele zeigen deutlich: Althistoriker müssen vielleicht nicht gleichzeitig klassische Philologen sein; sie müssen aber in der Lage sein, die griechischen und lateinischen Quellen im Original zu verstehen und mit den Ergebnissen der philologischen Forschung zu arbeiten.
2.2.4 Literaturgattungen und TopikTopik
Ein anderer Zweig der philologischen Studien ist die Literaturwissenschaft. Dazu gehört es, das literarische Schrifttum, also alle Werke, die für ein breiteres Publikum und mit einem gewissen ästhetischen Anspruch verfasst worden sind, in Literaturgattungen einzuteilen. Dies kann nach formalen oder inhaltlichen Kriterien oder einer Kombination von beidem geschehen; gängig ist beispielsweise die Unterscheidung der literarischen Werke in DichtungDichtung und Prosa. Wichtig für die Alte Geschichte ist, dass schon in der Antike über Literaturgattungen nachgedacht wurde und dass in diesem Zusammenhang zum Teil gattungsspezifische Regeln für Stil und Inhalt literarischer Werke formuliert wurden. Daraus ergibt sich, dass manches, was ein Autor schrieb, nur dem Bedürfnis geschuldet war, solchen Gattungsgesetzen zu entsprechen. Dieser Mechanismus konnte im Übrigen auch unreflektiert allein dadurch ablaufen, dass sich ein Autor sehr eng an ein berühmtes literarisches Vorbild anlehnte, eine im Altertum sehr häufige Konstellation. Man bezeichnet solche literarischen Gemeinplätze, die im Rahmen eines bestimmten Genres unbedingt ‚bedient‘ werden mussten, als TOPOI. Häufig meint dieser Begriff jedoch eher die Übertragung auch der Inhalte einer Aussage in ein anderes Werk oder einen anderen Kontext. Manche derartigen Topoi ziehen sich als Wandermotive durch die gesamte antike Literatur. Vor diesem Hintergrund muss bei der historischen Auswertung einer QuelleQuelle natürlich auch auf eventuelle topische Bezüge sorgfältig geachtet werden.
Die Interpretation von Texten unter gattungstheoretischen Vorzeichen muss allerdings dort ihre Grenzen finden, wo sie, ohne hinreichend gerechtfertigt zu sein, eine unbefangene Deutung erschwert. Das Paradebeispiel hierfür sind die homerischen Epen, die Ilias und die Odyssee. Beide Gedichte wurden traditionellerweise als HeldendichtungHeldendichtung eingeordnet und vor allem mit mittelalterlichen Heldensagen wie etwa dem NibelungenliedNibelungenlied verglichen. Vor diesem Hintergrund deutete man dann die bei HomerHomer geschilderte Gesellschaft, in der beinahe nur von heldenhaften Gestalten gesprochen wird, als die aus gattungsspezifischen Gründen in den Vordergrund gerückte aristokratische Hälfte einer zweigeteilten realen Gesellschaft: In Heldengedichten sei, so die Einschätzung der älteren Forschung, eben nur von Helden die Rede, und nicht von ihren Dienern und Knechten. So, wie es Diener und Knechte in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Völkerwanderungszeit (in der das Nibelungenlied entstand) aber nachweislich gegeben habe, so dürfe man auch von der Existenz einer Unterschicht in homerischer Zeit ausgehen – nur könne man diese in den Gedichten nicht richtig greifen. Diese Ansicht ist problematisch, denn sie lässt außer Acht, dass die homerischen Gedichte gewissermaßen am Beginn der antiken Literatur stehen, dass wir über ihre Entstehung wenig wissen, und dass es daher methodisch nicht zulässig ist, Elemente, die in späteren Werken der Gattungstradition verpflichtet sind, auch schon für Ilias und Odyssee als solche Gemeinplätze aufzufassen. Dies ist zwar denkbar, aber kaum schlüssig zu begründen, und das heißt für die homerische Gesellschaft, dass es sich bei ihr ebenso gut um eine Art ‚Leistungsgesellschaft‘ gehandelt haben kann, in der die ‚ritterliche Ethik‘ allen Mitgliedern der Gemeinschaft offenstand, und nicht nur einem ‚Adel‘.
2.2.5 Die antike Geschichtsschreibung
Schriftquellen sind also, obwohl sie, wie eingangs betont, unsere Erkenntnismöglichkeiten über die Vergangenheit ungeheuer erweitern, zumeist nicht einfach zu interpretieren, sie eröffnen im Gegenteil häufig Schwierigkeiten eigener Art. Eine Sonderstellung nehmen dabei NARRATIVE Texte ein. Einerseits handelt es sich bei ihnen zweifellos um besonders wertvolle Quellen, denn sie sind die einzigen Texte, die uns die für das geschichtliche Verständnis so wichtigen Ereigniszusammenhänge liefern. Auf der anderen Seite aber ist bei der Auswertung erzählender Quellen auch besondere Vorsicht geboten. Oft ist nämlich schon die bloße Herstellung eines Ereigniszusammenhanges bereits eine Interpretation, und viele narrative Zeugnisse transportieren bekanntlich weit darüberhinausgehende Deutungen und Wertungen. Diese vorgegebenen Muster sind freilich fast nie die einzige Art und Weise, wie man die berichteten Fakten sehen kann, und deswegen dürfen Historiker nicht der großen Versuchung erliegen, sie einfach ungeprüft zu übernehmen.
Man muss daher stets nach den Darstellungsabsichten eines Autors fragen. Am deutlichsten wird dies wohl bei der antiken HISTORIOGRAPHIE, also der Geschichtsschreibung im engeren Sinne, die im 5.Jahrhundert v. Chr. in Griechenland einsetzte. Zwar gab es schon zuvor sowohl im griechischen Bereich als auch anderswo erzählerische Darstellungen der Vergangenheit, etwa die homerischen EPEN, oder, um ein Beispiel außerhalb des griechischen Kulturkreises zu nennen, Teile