Hartmut Blum

Alte Geschichte studieren


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Lebensformen, bringt sie in gewisser Weise ebenso wieder einer universalhistorischen Ebene näher (→Kap4.4).

      Da die Alte Geschichte sich einer nationalstaatlichen Perspektive weitgehend entzieht, ist sie in jüngerer Zeit – zumal von politischer Seite – vielfach mit der EuropaEuropa-Idee verbunden worden. Die griechisch-römische Zivilisation rückt dabei in eine traditionsbildende, wenn nicht vorbildliche Rolle für ein sich als politische und kulturelle Einheit verstehendes Europa – für dessen Abgrenzung von Asien es ja aus geographischer Perspektive keine Grundlage gibt. Antike Kultur und – kaum präzise gefasste – Vorstellungen einer völkerübergreifenden politischen Integration in der Antike werden zum auch exklusiv gebrauchten Argument im europäischen Einigungsprozess. Von manchen Ländern ist das Aufzeigen dieser Verbindungen zur europäischen Identitätsfindung direkt als Bildungsauftrag formuliert worden.

      Unabhängig von der Bewertung der politischen Instrumentalisierung der Vergangenheit ist aus althistorischer Perspektive allerdings anzumerken, dass der Antike ein vergleichbares Europabewusstsein fremd war. Daneben provoziert diese IdentitätsstiftungIdentitätsstiftung auch eine geographische Engführung beim Blick zurück auf die Antike. Viele der politisch und kulturell bedeutendsten Zentren der griechisch-römischen Mittelmeerzivilisation lagen außerhalb der Grenzen dessen, was heute als EuropaEuropa akzeptiert wird, wozu man nur auf die Städte Kleinasiens, des Nahen Ostens, Ägyptens oder Nordafrikas hinzuweisen braucht, die integraler und Impuls gebender Teil dieser Zivilisation waren. Dieses wiederum wird von interessierter Seite zuweilen als Argument für die Zugehörigkeit speziell Kleinasiens zum heutigen Europa formuliert. Doch nicht zuletzt birgt die Berufung auf gemeinsame geistig-kulturelle Wurzeln als Argument in einem positiv beurteilten politischen Prozess die Gefahr, die Antike allzu undifferenziert als vorbildlich erscheinen zu lassen und sie zu idealisieren. Doch die Antike hatte auch viele Schattenseiten wie die Sklaverei, die Rolle des Krieges oder die stete Präsenz physischer Gewalt. Zu Recht ist diesbezüglich schon vor einem ,Dritten HumanismusHumanismus‘ gewarnt worden.

      1.3.8 Ästhetischer Reiz

      Für viele schließlich zeichnet sich die Beschäftigung mit der Alten Geschichte durch einen besonderen ästhetischen Anreiz aus. Er resultiert vor allem aus der dichten Integration der materiellen Überreste in das althistorische Arbeiten, mit ihrer teils hervorragenden künstlerischen Qualität, aber auch aus der sprachlichen und formalen Perfektion zahlreicher literarischer Quellen. Auch dieser ästhetische Anreiz ist ein legitimes Interesse der bevorzugten Auseinandersetzung mit der Alten Geschichte, soweit dabei die Historizität des Gegenstands gewahrt bleibt und er nicht zum Fokus einer der Gegenwart entfliehenden Antikenbegeisterung wird – oder gar die Gegenwart gegen eine so gezeichnete Antike ausspielt. In einer Zeit nahezu unbegrenzter Reisemöglichkeiten, die das vergangene Fremde als Erlebnislandschaft inszeniert und zur Teilhabe einlädt, zu einer ihnen angemessenen Beurteilung der antiken Kulturen zu kommen, ist ein weiterer Aspekt für den Gewinn, der sich aus einer kritischen Beschäftigung mit der Antike auch für die Gegenwart erzielen lässt.

      1.4 Die Geschichte des Fachs

      In den bisherigen Bemerkungen ist bereits mehrfach angeklungen, wie prägend die Forschungsgeschichte und Wissenschaftstradition der Alten Geschichte für unsere Beschäftigung mit der Antike in der Gegenwart immer noch ist. Dass bei folgender Skizzierung die deutschsprachige Entwicklung in den Vordergrund tritt, legitimiert sich auch durch die bis in das beginnende 20.Jahrhundert von hier ausgegangenen Impulse.

      1.4.1 Zwischen PhilologiePhilologie und UniversalgeschichteUniversalgeschichte

      Die Anfänge der Alten Geschichte als Fach wird man sinnvollerweise in RenaissanceRenaissance und HumanismusHumanismus verorten. Zwar beschäftigte sich bereits die Antike intensiv mit der eigenen Vergangenheit und entwickelte die Historiographie zu einer bedeutenden Gattung (→ Kap.2.2.5–2.2.7), und auch im MittelalterMittelalter verfolgte man in den Chroniken die eigene Geschichte bis in die Antike zurück. Doch erst durch die ,Entdeckung‘ des Mittelalters und damit die – trotz gefühlter inhaltlicher Nähe – Erfahrung der zeitlichen Distanz und Abgeschlossenheit der Antike wurde diese eigentlich zu einem eigenen Gegenstand (→ Kap.1.1.2). In den mittelalterlichen Chroniken hingegen hatte man die Geschichte des Altertums noch ungebrochen als eigene Vorgeschichte behandelt, die in christliche Deutungskonzepte eingebunden war.

      Der neue Blick auf die Antike zu Beginn der NeuzeitNeuzeit war der eines Staunens und Bewunderns. Man sah in der Antike ein überzeitliches Vorbild, dem es auch in der Gegenwart uneingeschränkt nachzueifern galt. Für Fragen des eigenen Seins holte man sich Rat bei der Antike, und ihre normative Geltung schien alle Bereiche des Lebens zu umfassen. Das Wissen über diese Zeit gewann man aus den Texten der griechisch-römischen Autoren. Der wichtigste Weg zur Vermehrung dieses Wissens wurde entsprechend das Aufspüren noch unbekannter Texte: Während des 14. und 15. Jahrhunderts reisten die Gelehrten zu allen Bibliotheken Europas. Dank der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts konnten die neu gefundenen Texte rasch verbreitet werden.

      Altertumswissenschaft in dieser Zeit war Klassische PhilologiePhilologie, und die Autorität der Texte war unbestritten. Um Hilfen für ihr Verständnis bereitzustellen, entwickelte sich eine spezielle Form von Lexika und THESAURI, welche die Begriffe, die Realien des religiösen oder privaten Lebens bzw. jene des Staates wie Recht, Verfassung und Verwaltung erläuterten. Sie hätten Ansätze für einen auf die geschichtlichen Verhältnisse dieser Dinge verweisenden Sachkommentar bieten können. Doch ihrem Verwendungszweck als Hilfsmittel entsprechend präsentierten diese Werke ihre Gegenstände eher statisch: Das verändernde, dynamische Element galt ganz dem Text.

      Das Erkennen der Antike als eigene Epoche mit dem Kontinuitätsbruch zum MittelalterMittelalter provozierte jedoch auch genuin historische Fragestellungen, und in derartigen universalhistorischen Betrachtungen liegt die zweite Wurzel für die Alte Geschichte als Fach. Aus der Erfahrung der DiskontinuitätDiskontinuität resultierten Niccolò MachiavelliMachiavelli, Niccolòs (1459–1527) Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1531 [postum]), in denen er, ausgehend vom Niedergang des römischen Imperiums, die Ursachen des Aufstiegs und Niedergangs der Völker zu ergründen suchte. Ähnlich versuchte Charles MontesquieuMontesquieu, Charles (1689–1755) in seinen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (1734) aus der Betrachtung der römischen Geschichte allgemeine Gesetze zu gewinnen. Beiden ging es darum, aus der Geschichte Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Das jeweils in die eigene Gegenwart hineinwirkende Thema des Niedergangs wurde dann in dem voluminösen Werk von Edward GibbonGibbon, Edward (1737–1797) History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776–1788) weit ausholend untersucht und erzählerisch zur Darstellung gebracht. Gibbon maß dem ChristentumChristentum eine entscheidende Bedeutung für den Auflösungsprozess des römischen Reiches zu (→ S.23).

      Der Beginn einer zweiten äußerst wirkungsmächtigen Phase der Antikenrezeption kann mit dem Wirken von Johann Joachim WinckelmannWinckelmann, Johann Joachim (1717–1768) verbunden werden: der NeuhumanismusNeuhumanismus oder – wegen des engen Bezugs auf Griechenland – der NeuhellenismusNeuhellenismus. Auf der Suche nach Wegen zur Erneuerung der Kunst in seiner eigenen Gegenwart fand Winckelmann in der griechischen Kunst ein Ideal, das er in den Rang überzeitlicher Geltung erhob. Doch Winckelmann ging noch weiter: Ursache dieses Kunstschaffens war für ihn ein ebenso ideales Menschentum der Griechen, für dessen Entwicklung wiederum die politische Freiheit, wie er sie im AthenAthen der klassischen Zeit fand, den politischen Rahmen geboten habe: Kunstschaffen und politische Ordnung, Freiheit, Ästhetik und Menschentum griffen bei Winckelmann ineinander und forderten die Gegenwart: „Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“ (1755).

      Winckelmanns überragender Einfluss erstreckte sich nicht nur auf das Schaffen Goethes, Schillers oder Hölderlins und beflügelte die Griechenbegeisterung des 18. und 19. Jahrhunderts; seine Ideen wurden bei Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von (1767–1835) ganz konkrete Grundlage für die Reform des preußischen Schulwesens: