(Grammont 1902). Das ein paar Jahre später erschienene Buch des Ehepaares Clara (1877–1948) und William (1871–1938) Stern über die Kindersprache (Stern und Stern 1907) stellt einen Höhepunkt in der damaligen Spracherwerbsforschung dar. Nicht lange danach, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, erwacht dann das wissenschaftliche Interesse für die frühkindliche Mehrsprachigkeit. Linguisten, Mediziner, Psychologen und Soziologen machen sich zum ersten Mal Gedanken über den Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen im Kindesalter und die daraus resultierende frühkindliche Mehrsprachigkeit. Die erste diesbezügliche Studie verdanken wir dem französischen Sprachwissenschaftler und Romanisten Jules Ronjat (1864–1925), der im Jahr 1913 seine Beobachtungen zur Entwicklung seines zweisprachig aufwachsenden Sohnes Louis veröffentlicht. Jules Ronjat bezieht sich in seinem Buch auf Grammont (1902) und Stern und Stern (1907) und vergleicht seine Daten mit denjenigen aus dem monolingualen Erstspracherwerb. Die Studie ist in vieler Hinsicht innovativ und bahnbrechend; sie stellt unter anderem die erste ausführliche Beschreibung des Versuchs dar, ein Kind gemäß der Erwerbskonstellation eine Person → eine Sprache zu erziehen. Interessant ist die Studie noch heute, weil in ihr viele der Themen und Fragestellungen zur Sprache kommen, die in der heutigen Forschung eine zentrale Rolle spielen.
Gleich nach der Einleitung, in einem mit Méthode suivie pour apprendre les deux langues betitelten Kapitel, schreibt Jules Ronjat, er habe kurz nach dem 30. Juli 1908, dem Tag der Geburt seines Sohnes, von seinem Kollegen Maurice Grammont einen Brief mit der folgenden Empfehlung erhalten:
Il n’y a rien à lui apprendre ou à lui enseigner. Il suffit que lorsqu’on a quelque chose à lui dire on le lui dise dans l’une des langues qu’on veut qu’il sache. Mais voici le point important : que chaque langue soit représentée par une personne différente. Que vous par exemple vous lui parliez toujours français, sa mère allemand. N’intervertissez jamais les rôles. De cette façon, quand il commencera à parler, il parlera deux langues sans s’en douter et sans avoir fait aucun effort spécial pour les apprendre. (Ronjat 1913, 3)
‚Es gibt nichts, was man ihm beibringen oder ihn lehren müsste. Es genügt, dass man, wenn man ihm etwas sagen möchte, ihm das in einer der Sprachen sagt, die er erwerben soll. Der wichtige Punkt ist jedoch: Jede Sprache sollte durch eine unterschiedliche Person vertreten sein. Sie zum Beispiel sollten mit ihm immer Französisch sprechen, seine Mutter Deutsch. Tauschen Sie nie die Rollen. Auf diese Weise wird er, wenn er zu sprechen beginnt, die Sprachen sprechen, ohne einen Zweifel zu haben und ohne eine spezielle Anstrengung zu ihrem Erwerb gemacht zu haben.‘
Jules Ronjat befolgt diesen Ratschlag. Die Familie lebt in Vienne (an der Rhône südlich von Lyon). Der Vater spricht Französisch mit dem Sohn, die Mutter Deutsch. Wenn die ganze Familie beisammen ist, zum Beispiel bei Tisch, unterhält man sich auf Deutsch, außer es sind Personen anwesend, die des Deutschen nicht mächtig sind. Wendet sich Louis bei solchen Gelegenheiten an seinen Vater, tut er dies immer auf Französisch. Einmal verwendet Jules Ronjat bei Tisch das deutsche Wort Approbation mit einer deutschen Aussprache. Louis kennt es nicht und fragt seinen Vater Qu’est-ce que c’est, approbation? ‚Was ist das, Approbation?‘ mit der korrekten französischen Aussprache (Ronjat 1913, 73).
Die Familie ist verhältnismäßig wohlhabend und kann sich Hauspersonal leisten. Louis wird teils von deutschsprachigen teils von französischsprachigen Kindermädchen betreut und wächst zu einem fließenden Sprecher beider Sprachen heran. In einem Brief vom 27. Oktober 1923 berichtet Jules Ronjat, dass sein Sohn beide Sprachen gleichermaßen in der alltäglichen Konversation verwendet; in technischen Belangen zieht er allerdings Französisch vor, während er als Literatursprache Deutsch bevorzugt (Vildomec 1971, 25).
Der dem Buch zu Grunde liegende Untersuchungszeitraum umfasst die ersten 52 Lebensmonate des Kindes. Zumindest in dieser Zeit genießt Louis ebenso viel Input auf Deutsch wie auf Französisch. Dies wird von Ronjat (1913, 7–10) genau dokumentiert. Die Familie hat neben den Kindermädchen auch noch deutschsprachige Köchinnen. Außerdem bekommt sie regelmäßige Verwandtenbesuche aus Deutschland. Zu den Anfängen der Sprache seines Sohnes schreibt Ronjat (1913, 75):
Du 13e au 16e mois il n’a presque que des mots du vocabulaire commun issus d’onomatopées ou donnés en Ammensprache. Mais dès le 16e se manifestent nettement l’existence des deux collections et leur usage distinct [...].
‚Vom 13. bis zum 16. Monat hat er fast nur Wörter des gemeinsamen Wortschatzes, die von Onomatopöien oder der Ammensprache herrühren. Aber ab dem 16. Monat zeigt sich deutlich das Bestehen zweier Wortsammlungen und ihre getrennte Verwendung.‘
Obgleich sowohl der Vater als auch die Mutter beide Sprachen beherrschen, wird es Louis erst um den 28. Lebensmonat klar, dass er sich an seine Eltern und an bestimmte andere Personen in beiden Sprachen wenden kann. Ungefähr mit drei Jahren entwickelt sich bei ihm das Bewusstsein, zwei Sprachen zu sprechen, und bald danach kann er diese auch benennen. Insgesamt gesehen kann Jules Ronjat bei seinem Sohn keine Anzeichen für eine Behinderung der intellektuellen Fähigkeiten durch die Bilingualität feststellen und versucht in seinem Buch, ein damals gängiges Vorurteil zu entkräften. Ich werde noch auf diese in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Meinung zu sprechen kommen, dass sich die Bilingualität negativ auf die intellektuelle Entwicklung auswirken könnte. Die intellektuellen und kognitiven Auswirkungen der Bilingualität stellen noch heute ein zentrales Thema der Forschung dar.
Bei der Analyse der von seinem Sohn beherrschten Laute unterstreicht Ronjat (1913, 12, 14, 16, 36) an mehreren Stellen, dass dieser von Anfang an über zwei separate Lautsysteme verfügt. Der Zeitpunkt, an dem zwei getrennte Sprachsysteme erkennbar sind, wird später in der Psycholinguistik ebenfalls eine intensiv diskutierte Frage darstellen. Für eine länger anhaltende, stabile Übertragung von Lauten der einen Sprache auf die andere kann Jules Ronjat keine Indizien finden. Louis besitzt in beiden Sprachen eine mit monolingualen Kindern vergleichbare Aussprache. Ronjat (1913, 57 ff.) stellt sich auch die Frage, ob sein Sohn im Vergleich zu monolingualen Kindern etwas später eine korrekte Aussprache erworben habe, und kommt zu dem Schluss, dass die leichte, ca. fünfmonatige Verspätung wahrscheinlich individueller Natur ist und nicht auf die Bilingualität zugeführt werden kann. In der Tat ist man heute der Ansicht, dass sowohl im monolingualen als auch im bilingualen Erstspracherwerb eine erhebliche Variation bezüglich der Zeit besteht, in der Kinder zu sprechen beginnen (Meisel 2004, 95).
Bezüglich Wortschatz und Syntax kann Ronjat (1913, 36) ebenfalls keine konstanten Unregelmäßigkeiten feststellen:
On verra [...] que les emprunts authentiques de langue à langue en matière de vocabulaire et de syntaxe se réduisent en somme à peu de chose et n’affectent pas la correction générale du langage, que de bonne heure notre sujet a pu s’exprimer très convenablement dans les deux langues à peu près comme le fait dans une seule la moyenne des enfants monoglottes (nés dans des milieux cultivés) dont les parents s’occupent assidüment, et que de très bonne heure il a pu faire, non certes des traductions, mais d’exactes transmissions de messages d’une langue dans l’autre.
‚Man wird sehen [...], dass sich insgesamt die wirklichen Entlehnungen von einer Sprache in die andere, die den Wortschatz und die Syntax betreffen, auf wenig beschränken und nicht die allgemeine Korrektheit der Sprache beeinträchtigen, dass unser Subjekt früh lernte, sich in beiden Sprachen sehr passend auszudrücken, ungefähr so wie es in einer Sprache die (in einem kultivierten Milieu geborenen) monolingualen Kinder tun, mit denen sich die Eltern gewissenhaft beschäftigen, und dass er sehr früh, sicherlich keine Übersetzungen, aber doch genaue Übertragungen von Mitteilungen von einer in die andere Sprache machen konnte.‘
Natürlich verwendet Louis gelegentlich in einem französischen Satz ein deutsches Wort und vice versa, aber ab dem 43. Lebensmonat werden solche Erscheinungen sehr selten (Ronjat 1913, 60). Manchmal behilft sich Louis mit zwar interessanten, aber zielsprachlich falschen Lehnübersetzungen: z. B. tuyau statt chambre à air für ‚Fahrradschlauch‘ oder Moos statt Schaum für ‚Schaum‘.
4.2 Leopold (1939–1949)
Die nächste wichtige Arbeit nach Ronjat (1913) ist die über die Grenzen des bilingualen Erstspracherwerbs hinaus bekannte Studie Werner F. Leopolds (1896–1984) über die zweisprachige Entwicklung seiner Töchter