F. Leopold war 1925 in die Vereinigten Staaten emigriert, hatte dort eine deutschstämmige Amerikanerin geheiratet und notierte ab der achten Woche nach der Geburt Hildegards im Jahre 1930 systematisch seine Beobachtungen. Zwischen 1939 und 1949 veröffentlichte er diese in einem vierbändigen Werk, das als ein Meilenstein nicht nur der Bilingualitätsforschung, sondern auch der Psycholinguistik im Allgemeinen angesehen werden kann. Einige wichtige Aspekte seiner Untersuchung werden in Leopold (1953, 1954) zusammengefasst. Werner F. Leopold war, wie Jules Ronjat, Sprachwissenschaftler. Im Vorwort des ersten Bandes dankt er dem bekannten amerikanischen Linguisten Leonard Bloomfield (1887–1949) für die Durchsicht des Manuskriptes.
Die Familie lebt in der Stadt Evanston im Bundesstaat Illinois. Auch bei ihr herrscht in der Kommunikation mit dem Kind der Grundsatz eine Person → eine Sprache: Werner F. Leopold spricht Deutsch mit Hildegard, seine Frau Marguerite Englisch. Im Gespräch miteinander verwenden die Ehepartner interessanterweise ihre jeweilige Erstsprache. Zweimal, von Juni bis September 1931 und von Juni 1935 bis Januar 1936, hält sich die Familie in Deutschland auf. Wie sich Leopold (1939, 13) erinnert, wechselte die Mutter während des ersten Aufenthaltes in Deutschland in ihrer Kommunikation mit Hildegard zum Deutschen. 1936 kommt die zweite Tochter, Karla, zur Welt. Auch sie wird bilingual erzogen.
Die Studie zeichnet sich durch außergewöhnliche Genauigkeit und großen Reichtum an Daten aus. Die Qualität der Aufzeichnungen ist so hervorragend, dass sie in den nachfolgenden Jahrzehnten wiederholt zu Vergleichszwecken herangezogen wurden. Von Hildegards achter Lebenswoche bis zu ihrem sechsten Lebensjahr führte Werner F. Leopold akribisch Tagebuch über die sprachliche Entwicklung. Insbesondere registrierte er fast alle Wörter, die Hildegard bis zu ihrem zweiten Lebensjahr produzierte. Der erste Band des Werkes enthält auf mehr als hundert Seiten den gesamten Wortschatz Hildegards, gefolgt von einer Chronologie der dort vermerkten Wörter. Aufgrund der damit verbundenen Arbeitsanstrengung nimmt Leopold (1949b, 136) allerdings von systematischen Aufzeichnungen über die zweite Tochter Abstand. Alle vier Bände enthalten jedoch zahlreiche Anmerkungen, Vergleiche und Fußnoten bezüglich der Daten von Karla. Die Einträge und Angaben betreffen vor allem Hildegards bilinguale Entwicklung bis Ende 1936. Die Einträge ab dem Jahr 1937 umfassen nur noch wenige Seiten. Der letzte Tagebucheintrag stammt aus dem Jahr 1946.
Der Wortschatz Hildegards bleibt bis zur Mitte des zweiten Lebensjahres verhältnismäßig ausgewogen (Leopold 1939, 161). Die Anzahl der aktiven deutschen und englischen Wörter ist bis 1;5 in etwa gleich, die Anzahl der neu erworbenen Wörter ist bis 1;3 in den beiden Sprachen ebenfalls vergleichbar. Danach wächst das englische Lexikon allerdings sprunghaft. Das Mädchen erwirbt monatlich fast dreimal so viele englische als deutsche Wörter, und die englischen Wörter zeichnen sich durch eine größere Permanenz aus, so dass der Wortschatz um 1;11 viermal so viele aktive englische als rein deutsche Wörter enthält.
Der zweite Band (Leopold 1947) ist dem Lautsystem gewidmet. Leopold (1947) geht von Jakobsons (1969 [1941]) Konstanten in der Reihenfolge des Lauterwerbs aus und weist nach, dass diese mit Ausnahme von Details von seinen Daten bestätigt werden. Auch Leopold (1947) ist der Meinung, dass sich das Lautsystem nach phonologischen statt nach phonetischen Kriterien entwickelt. Im Unterschied zur Phonetik, die die konkreten Eigenschaften der Laute untersucht, beschäftigt sich die Phonologie mit der Stellung und Funktion der Laute im System einzelner Sprachen. Eines ihrer zentralen Aufgabengebiete besteht in der Ermittlung der Phoneme, d. h. der kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache. Die Sprachen der Welt enthalten zusammen etwa 600 Konsonanten und 200 Vokale. Jede Sprache hat ein für sie charakteristisches Inventar von Konsonanten und Vokalen, die in diesem Fall Phoneme genannt werden. Bilinguale Kinder stehen vor der Aufgabe, im Laufe ihres Spracherwerbs zwei Phoneminventare erwerben zu müssen, im Falle von Hildegard die Inventare des Deutschen und Englischen. Aufgrund der phonologischen Nähe der beiden Sprachen tritt in den ersten beiden Jahren keine Phonemkollision ein. Die Phoneme, die nur für eine der Sprachen charakteristisch sind, werden erst später erworben. Leopold (1954, 25) kann in dieser Zeit nur wenige lautliche Erscheinungen ausmachen, die auf die Bilingualität seiner Tochter zurückzuführen sind. Die festgestellten Lautvereinfachungen und -ersetzungen sind zumeist auch im monolingualen Erwerb nachweisbar.
Im dritten Band wird Hildegards Grammatikentwicklung während der ersten beiden Lebensjahre besprochen. Leopold (1949a, 179) hebt an mehreren Stellen hervor, dass Hildegard ein hybrides, aus Elementen beider Sprachen bestehendes System aufgebaut hat:
The fact, repeatedly emphasized, that Hildegard did not yet try to keep the two language instruments apart, but built a hybrid system out of elements of both, is brought out in spotlight illumination by certain instances, in which she replaced a word presented in one language by a word from the other in her own, immediately following reaction. This was, of course, always a word which happened to be current in her own speech. Passively she realized that she was faced with two languages, which contained interchangeable words of identical reference. This must be considered a preparatory stage for active bilingualism of a later time.
‚Die wiederholt unterstrichene Tatsache, dass Hildegard noch nicht versuchte, die beiden Sprachwerkzeuge zu trennen, sondern ein hybrides System aus Elementen beider aufbaute, tritt in bestimmten Fällen ans Tageslicht, in denen sie ein in einer Sprache präsentiertes Wort in ihrer unmittelbar darauf folgenden Reaktion durch eines der anderen ersetzte. Das war natürlich immer ein Wort, das in ihrem Sprechen gerade geläufig war. Passiv war sie sich bewusst, mit zwei Sprachen konfrontiert zu sein, die austauschbare Wörter mit identischer Bedeutung enthalten. Das muss als Vorbereitungsstadium für eine spätere aktive Bilingualität betrachtet werden.‘
Vielleicht noch deutlicher wird das in Leopold (1954, 24) formuliert:
[...] infants exposed to two languages from the beginning do not learn bilingually at first, but weld the double representation into one unified speech system.
‚Kinder, die von Anfang an mit zwei Sprachen konfrontiert sind, lernen zuerst nicht zweisprachig, sondern fügen die doppelte Repräsentation zu einem einzigen System zusammen.‘
In einer anderen Passage unterstreicht Leopold (1949a, 181) noch einmal den hybriden Charakter von Hildegards Wortschatz und Äußerungen:
As long as she got along with a vocabulary drawn from both languages, she had no hesitation to combine items from both in single statements of more than a word.
‚Solange sie mit einem aus beiden Sprachen gespeisten Wortschatz auskam, zögerte sie nicht, Elemente aus beiden in einzelnen Mehrwortäußerungen zu kombinieren.‘
Leopold (1949a, 186) ist der Meinung, dass man in diesem Stadium noch gar nicht von zwei verschiedenen Sprachen sprechen könne. Hier können wir einen wesentlichen Unterschied zu Ronjats (1913), freilich weniger detaillierten, Beobachtungen erkennen: Dieser geht davon aus, dass sein Sohn Louis von Beginn an zwei getrennte Sprachsysteme aufbaut.
Erst nach dem zweiten Jahr erkennt Hildegard, dass sie es mit zwei verschiedenen Sprachen zu tun hat. Kurz nach ihrem zweiten Geburtstag benennt sie zum ersten Mal eine der beiden Sprachen – Deutsch – mit ihrem Namen, während sie vorher nur implizit mit I say oder you say oder mit How does Mama say it? darauf verwies (Leopold 1954, 28).
Werner F. Leopold weist auch darauf hin, dass Zweisprachige früher zwischen einem Ausdruck, d. h. einer Folge von Lauten, und der damit transportierten Bedeutung unterscheiden können. Hildegard erkannte sehr schnell, dass Wörter nichts anderes als arbiträre Etiketten sind, die nur auf Bedeutungen hinweisen und diese nicht selbst darstellen: „Bilingualism, however, helps to break down the intimate association between form and content“ (Leopold 1949a, 182). ‚Zweisprachigkeit hilft jedoch, die enge Verbindung zwischen Form und Inhalt aufzulösen.‘
Das Wissen um diese fundamentale Eigenschaft von sprachlichen Zeichen ist ein Aspekt des metalinguistischen Bewusstseins. Wie wir sehen werden, ist die Frage des metalinguistischen Bewusstseins in der heutigen Forschung zum bilingualen Erstspracherwerb hochaktuell. Mit der oben erwähnten Beobachtung deckt sich auch die folgende bemerkenswerte Feststellung Leopolds (1949a, 187 f.):
Hildegard never clung to words, as monolingual children are often reported to do. She did not insist on the exact wording of fairy tales. She often reproduced even memorized materials with substitution