der exakten Formulierung von Märchen. Oft ersetzte sie Wörter sogar beim Wiedererzählen von auswendig gelernten Passagen.‘
Die losere Verbindung zwischen Ausdruck und Bedeutung begünstigt die Aktivierung von Synonymen und Paraphrasen und führt dadurch zu einer gesteigerten Originalität von Hildegards Sprache. Damit widerspricht Werner F. Leopold einem damals verbreiteten Vorurteil bezüglich der geringeren sprachlichen Kreativität bilingualer Individuen.
Werner F. Leopold ist sich klar darüber, dass der deutschsprachige Input zu gering ist, um eine ausgewogene Zweisprachigkeit sicher zu stellen. Wie Leopold (1953, 13) betont, unterscheidet sich Hildegards Sprachkompetenz erheblich von der nahezu perfekten Bilingualität von Jules Ronjats Sohn. Mehrmals weist er auf Hildegards mangelhaftes Deutsch hin, gibt jedoch zu bedenken, dass die monolingualen gleichaltrigen Kinder, mit denen sie während des siebenmonatigen Deutschlandaufenthalts spielt, ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten bei den Artikeln und Suffixen an den Tag legen (Leopold 1945b, 100, 102, 109, 110, 114, 118). Überdies zeigt Hildegard auch im Deutschen bei regelmäßigem Input erstaunliche Fortschritte. Gegen Ende des Aufenthalts in Deutschland entspricht ihr Deutsch in etwa ihrem Englisch vor der Abreise nach Europa. Auf alle Fälle wird ihr Englisch durch den deutschen Einfluss nicht beeinträchtigt und entwickelt sich ungestört:
Nothing in the later development indicates that her learning of English was impeded by the interference of German, although there is no doubt that her German suffered permanently from the overpowering influence of English, even during the seven months in Germany (Leopold 1949a, 187).
‚Nichts in der späteren Entwicklung weist darauf hin, dass ihr Erwerb des Englischen durch die Interferenz des Deutschen behindert wurde, obwohl es keinen Zweifel gibt, dass ihr Deutsch permanent unter dem erdrückenden Einfluss des Englischen litt, sogar während der sieben Monate in Deutschland.‘
Leopold (1949b, 99) hebt hervor, dass fünf Jahre alte Kinder die Sprache in erster Linie als Mittel zur Kommunikation sehen und deshalb noch wenig Wert auf korrekte sprachliche Form legen. Während des siebenmonatigen Aufenthaltes in Deutschland fällt Hildegards fehlerhaftes Deutsch weder ihr selbst noch ihren Spielkameraden besonders auf (Leopold 1949b, 118).
Obgleich die Familie in Evanston Kontakt zu deutschsprachigen Freunden und Bekannten hatte, blieb Werner F. Leopold jahrelang der primäre deutschsprachige Gesprächspartner seiner Töchter. Aufgrund der fast vollkommen einsprachigen Umgebung und der für die Bilingualität allgemein ungünstigen Umstände war seine Aufgabe nicht leicht. Abgesehen von den verbreiteten Vorurteilen gegenüber der Zweisprachigkeit (Abschnitt 10.1) stand das Beibehalten und Pflegen der Sprache des Herkunftslandes im Gegensatz zur damals in den Vereinigten Staaten vorherrschenden Ideologie des melting pot. Durch direkten und indirekten Druck, deutsche Kinderlieder, Gutenachtgeschichten, Bücher und durch intensives Engagement versucht Werner F. Leopold, den geringeren Input des Deutschen ein wenig zu kompensieren. Diese angestrengten Bemühungen des Vaters bleiben Hildegard nicht verborgen und führen gelegentlich zu Verwunderung und auch Widerständen. Leopold (1949b, 41) berichtet zum Beispiel von folgendem Gespräch mit Hildegard im Alter von 3;2:
(1) Tochter: Papa!
Vater: Ja, Hildegard?
Tochter: Papa, why do you have those words? ‚Papa, warum hast du diese Wörter?‘
Vater: Weil ich deutsch spreche.
Tochter: But Papa, that isn’t nice. ‚Aber Papa, das ist nicht nett.‘
Ein Jahr danach fragt sie ihre Mutter (Leopold 1949b, 59):
(2) Mother, do all fathers speak German? ‚Mama, sprechen alle Väter deutsch?‘
Im Alter von sieben Jahren ist Hildegard manchmal stolz auf ihre Zweisprachigkeit (Leopold 1949b, 144), später, als vierzehnjährige Teenagerin auf der Suche nach Unabhängigkeit von ihrem Vater und seiner Sprache, fordert sie hingegen (Leopold 1949b, 153):
(3) Oh, Papa, don’t speak German in the street. ‚Oh, Papa, sprich nicht deutsch auf der Straße.‘
In vielen Aspekten war Werner F. Leopold seiner Zeit voraus. Zeitgenössische Forscher und Forscherinnen waren überzeugt, dass sich die frühkindliche Zweisprachigkeit negativ auf die Intelligenz auswirkt. Leopold (1947, vii, viii) bespricht die schulischen und intellektuellen Leistungen seiner Töchter im Alter von sieben bis zwölf Jahren und kann kein Anzeichen einer Beeinträchtigung feststellen. Verschiedene, in der Schule absolvierte Tests weisen vielmehr in die gegenteilige Richtung, was Werner F. Leopold zur Aussage bewegt, die frühkindliche Bilingualität beeinflusse die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes vorteilhaft. In der Tat erwiesen sich Karla (Leopold 1949b, 164) und in geringerem Maße Hildegard (Leopold 1949a, 187) in Bezug auf ihre sprachlichen Fähigkeiten in ihrer schulischen Laufbahn als überdurchschnittlich begabt. Die spätere psycholinguistische Forschung bestätigte Werner F. Leopolds damalige Ansicht.
4.3 Weitere Studien
Ronjat (1913) und Leopold (1939–1949) werden in so gut wie jedem Forschungsüberblick genannt. Im selben Zeitraum wurde jedoch eine ganze Reihe von weiteren Untersuchungen veröffentlicht; die meisten davon sind in der Aufstellung von Rūķe-Draviņa (1967, 10 f.) enthalten. Auflistungen und Besprechungen, die Studien aus dieser Zeit miteinbeziehen, sind ferner in Hatch (1978, 3–5), McLaughlin (1978, 74–82, 87), Taeschner (1983, 7–16), Hakuta (1986, 45–72), Schneider (2003a, 48) und Barron-Hauwaert (2004, 198 f.) zu finden. Teilweise handelt es sich um Studien, die hinsichtlich der untersuchten Sprachen bemerkenswert sind (z. B. Serbisch, Chinesisch, Litauisch, Polnisch, Ungarisch, Slowenisch, Russisch, Bulgarisch, Finnisch). Zwei dieser Arbeiten möchte ich im Folgenden kurz vorstellen.
4.3.1 Pavlovitch (1920)
Milivoïe Pavlovitch (oder Pavlović) studierte Sprachwissenschaft, zuerst in Belgrad, anschließend 1917–1918 in Paris bei dem bekannten Linguisten Antoine Meillet (1866–1936). 1920 veröffentlichte er ein Buch, das eine systematische Beobachtung der zuerst einsprachigen, dann ab dem 14. Monat zweisprachigen Entwicklung seines Sohnes Douchan in den ersten zwei Lebensjahren enthält. Pavlovitch (1920) beruft sich wiederholt auf Ronjat (1913) und vergleicht genau die sprachlichen Fortschritte seines Sohnes mit denjenigen von Jules Ronjats Sohn. Allerdings dominiert bei Pavlovitch (1920) die genaue Beschreibung des Erwerbs des Serbischen, während dem Erwerb des Französischen nur wenig Raum gewidmet ist. Das ist insofern verständlich, als es zur damaligen Zeit noch keine Untersuchungen zum Erwerb des Serbischen gab. Obwohl das Buch insgesamt eine bemerkenswerte und vor allem frühe Studie darstellt, ist es für die Forschung zum bilingualen Erstspracherwerb aus diesem Grund viel weniger relevant als Ronjat (1913).
Milivoïe Pavlovitch und seine Frau lebten in Frankreich und sprachen Serbisch mit ihrem Sohn, Französisch hörte Douchan von Freunden und Gästen der Familie. Es handelt sich hier also um eine Erwerbssituation des Typs Familiensprache ≠ Umgebungssprache. Im Falle von Milivoïe Pavlovitchs Sohn muss man außerdem von einem zeitverzögerten oder sukzessiven Erstspracherwerb sprechen. Erst ab dem 14. Monat hört Douchan fast so viel Französisch wie Serbisch und beginnt recht schnell, französische Wörter zu erwerben. Bis zum 22. Monat überwiegt zahlenmäßig noch der serbische Wortschatz, Pavlovitch (1920, 176) meint, ähnlich wie Ronjat (1913), dass „l’acquisition des éléments d’une langue n’a pas retardé le développement de l’autre“ ‚der Erwerb von Elementen einer Sprache hat die Entwicklung der anderen nicht aufgehalten‘ und dass Douchan über Kompetenzen „d’un enfant indigène“ ‚eines einheimischen Kindes‘ verfüge. Er unterstreicht ausdrücklich, dass man aufgrund vieler Indizien auf die Existenz von zwei Sprachsystemen schließen muss. Ab Ende des zweiten Lebensjahres kann sich Douchan in seinem Sprachverhalten auf die Sprache der Gesprächspartner und -partnerinnen einstellen. Pavlovitch (1920, 177) kann bei Douchan kaum Anzeichen einer hybriden Sprache erkennen: „Quant aux hybridités, elles sont assez rares; les phrases françaises admettent très peu de mots serbes [...]. ‚Hybride Phänomene sind recht selten; die französischen Sätze lassen sehr wenige serbische Wörter zu [...].‘ Er verweist jedoch auf einen von ihm untersuchten Fall eines französisch und serbisch erwerbenden Mädchens, dessen Sprache stark hybrid und gemischt war.
4.3.2