Silke Heimes

Künstlerische Therapien


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Harold Klawans betont die Wichtigkeit dieser Phasen, die er als Lernfenster bezeichnet. Alle Nervenbahnen, so Klawans, seien von Geburt an vorhanden und warteten nur darauf, benutzt zu werden. Während das jugendliche Gehirn reife, verkümmerten nicht benutzte Bahnen. Ist das Gehirn also einer wenig förderlichen Umwelt ausgesetzt, verschwinden Nervenbahnen, so dass auf ihnen künftig keine Übertragung mehr stattfinden kann. Je mehr Reize dem Gehirn dagegen – besonders in den plastischen Sinnesphasen – angeboten werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass Nervenbahnen bestätigt werden und erhalten bleiben (Klawans 2005).

      4.4 Die Anfänge der Kreativpädagogik

      Im Handbuch für Sozialerziehung von 1963/64 wird deutlich, dass die Pädagogen schon damals nicht nur die Eingliederung und Anpassung der jungen, ihnen anvertrauten Menschen im Sinn hatten, sondern ebenso deren Selbstverwirklichung. Dort heißt es wörtlich: »Wer dauernd von außen gelenkt wird und nicht zu seiner eigenen Verantwortung kommt, dem wird der Weg zu sich selbst verbaut, zur Persönlichkeit, weil ihm überall Entscheidung und Verantwortung abgenommen werden ... Im freien Werken werden die vielschichtigen Anlagen angesprochen und können in dem Maße der Veranlagung mit Geduld und Hingabe selbst verwirklicht werden.« (Bornemann 1963/64)

      Der kreative, spielerische Grundgedanke wurde also bereits damals formuliert, auch wenn die resultierende Einpassung der künstlerischen |22◄ ►23| Komponente in den Schulunterricht genau die Beschneidung und Normierung zur Folge hatte, die man den Kindern ersparen wollte.

      Auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz werden die Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, der Schutz ihres Wohlergehens, die Unterstützung von Eltern und Erziehungsberechtigten und die Verbesserung der Lebensbedingungen als Ziele genannt. Um die dafür notwendige frühzeitige und lebensweltorientierte Hilfe zu gewährleisten und Ressourcen zu stärken, sind individuelle Angebote erforderlich. Dabei ist die Förderung kreativer Ressourcen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: »Wir sind an den Gedanken gewöhnt, dass Kreativität beim Individuum beginnt und endet, und vergessen deshalb leicht, dass sie durch Veränderungen außerhalb des Individuums gefördert werden kann.« (Csíkszentmihályi 1997)

      Seit Mitte des 20. Jahrhunderts bemühten Kunstpädagogen sich darum, das innere Erleben des Kindes in den Fokus der Kunsterziehung zu rücken. Es sollte nicht länger um reine Nachahmung oder formale und handwerkliche Aspekte gehen, sondern den Kindern sollte die Dokumentation ihres inneren Erlebens ermöglicht werden. Dafür brauchen Kinder Zeit, Raum und Aufmerksamkeit und müssen die Chance erhalten, Gedanken, Gefühle und Phantasien zu gestalten und seelisch und körperlich zum Ausdruck kommen zu lassen.

      Der in Frankreich lebende und arbeitende Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Widlöcher versteht den ästhetischen Ausdruck des Kindes als narrative Form, mittels derer es auf kommunikative Weise Kontakt zu seiner Umwelt aufnimmt. Durch die den kindlichen Bedürfnissen entsprechende Beantwortung von Umweltreizen, beispielsweise durch spielerisches Malen und Gestalten, werde das Kind in die Lage versetzt, seine Psyche auszudifferenzieren und zu stabilisieren (Widlöcher 1993).

      Arno Stern, der in Deutschland geborene und nach Frankreich emigrierte Pädagoge, arbeitete nach dem Krieg in einem Waisenheim in einem Pariser Vorort. Sein Auftrag war es, die Kinder zu beschäftigen, und er ließ sie malen. Später richtete er unter dem Namen Académie du Jeudi in Paris ein Atelier ein, in dem Kinder in einem geschützten Raum ihr Innerstes ausleben konnten. Beschrieb Stern das Malen der Kinder zu Beginn als Kinderkunst, distanzierte er sich im Lauf der Zeit von diesem Begriff und entwickelte stattdessen den der »Formulation«, |23◄ ►24| der für ihn eine Rückkehr zum Ursprünglichen beinhaltete (Stern 1998).

      Stern geht davon aus, dass jeder Mensch – unabhängig von Alter, Herkunft und Prägung – das Bedürfnis, die natürliche Anlage und die Fähigkeit hat sich auszudrücken. Dabei stehen für ihn der Prozess des Malens und die Entwicklung des Malenden im Vordergrund. Indem der Ausübende seine Äußerung mit keiner Erwartung verbinde, so Stern, erfahre er Unabhängigkeit. Die kreative, ausdrucksorientierte Arbeit mit Kindern hat für ihn prägenden und präventiven Charakter. In seiner Vorstellung ermöglicht eine spielerische Beschäftigung mit dem menschlichen Ausdruck in einem geschützten Raum das Auffinden der von ihm als Spur bezeichneten menschlichen Eigenart eines jeden Individuums (Stern 1996 und 2005).

      Die Schweizer Philosophin und Kunsttherapeutin Bettina Egger, eine Schülerin Sterns, entwickelte aus dem von Stern praktizierten Ausdrucksmalen das so genannte lösungsorientierte Malen (LOM). Der Mensch, so Egger, sei ein Ausdruckswesen, das sich, in Analogie zu Paul Watzlawicks Kommunikationsaxiom, nicht nicht ausdrücken könne. Bewegungen, Töne, Bilder und Worte sind Träger menschlichen Ausdrucks und im lösungsorientierten Malen erhält der Mensch die Möglichkeit, sich auf die Ebene der Metaphern zu begeben, auf der das Gehirn die Fähigkeit besitzt, Bilder zu entwickeln, die für komplexe Sachverhalte oft besser geeignet sind als die Sprache, da Lösungen oft nicht im Denken, sondern in einer Erweiterung der Wahrnehmung liegen (Egger 2003).

      Der deutsche Philosoph, Künstler und Pädagoge Hugo Kükelhaus ging davon aus, dass Wahrnehmung zugleich auch Einsicht bedeutet und entwickelte ein ganzheitliches Konzept der Sinnenschulung. In seiner Vorstellung soll ästhetische Erziehung dazu verhelfen, den Wagnissen des Sehens, Gehens, Hörens und Lebens gerecht zu werden. In diesem Verständnis wird die Entwicklung des Menschen von der Umwelt optimal gefördert, wenn eine Mannigfaltigkeit wohldosierter Reize vorhanden ist, beziehungsweise bereitgestellt wird. Die Vielgestaltigkeit der Umwelt ist für Kükelhaus Lebensbedingung (Kükelhaus 1982).

      Dem Gründer des Bauhauses, Walter Gropius, ging es um eine Synthese der Künste unter dem Dach der Architektur, um die Verbindung von Handwerk und Kunst und die Herstellung einer neuen Einheit von |24◄ ►25| Kunst und Industrie: »Von dem richtigen Gleichgewicht der Arbeit aller schöpferischen Organe hängt die Leistung des Menschen ab. Es genügt nicht, das eine oder das andere zu schulen, sondern alles zugleich bedarf der gründlichen Bildung. Daraus ergibt sich Art und Umfang der Bauhauslehre. Sie umfaßt die handwerklichen und wissenschaftlichen Gebiete des bildnerischen Schaffens ...«

      Den Bauhauslehrern stand eine zu erneuernde Lebenspraxis vor Augen, die den ganzen Menschen mit seinen sinnlichen Ausdrucksformen beanspruchen sollte: Lernen durch Erfahrung anhand von Sinnesschulung, Materie- und Materialübungen. Die Bauhauslehre war auf Farbe, Form, Klang, Bewegung und Struktur ausgerichtet. Es erfolgte, wie aus den Schriften Johannes Ittens, Paul Klees und Wassily Kandinskys hervorgeht, eine Reduzierung auf Elementares. Kandinsky arbeitete, wenn man es genau nimmt, schon früh auf intermedialer Ebene, bemühte er sich doch um die Umsetzung von Klang in Gestalt und versuchte ein Kunstwerk zu schaffen, in dem klingende Farbakkorde, Farbklang und Farbsprache integriert sein sollten. Aspekte der Transformation, Synthese und Transzendenz sollten deutlich machen, dass künstlerische Formen wie Malerei, Musik und Bewegung nicht für sich wahrgenommen werden können, sondern nur hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit von einem Medium ins andere. Leben und Kunstwerk sollten durch eine sich selbst aufbauende Synthese aller Lebensmomente zu einem alles umfassenden Gesamtwerk des Lebens verschmelzen (Hampe 2003).

      4.5 Das spielerische Element

      Nach dem, was wir wissen, ist es – gerade in der heutigen Gesellschaft, in der der Leistungs- und Funktionsgedanke schon in die Kindergärten getragen wird – unerlässlich, dem Menschen wieder alternative Erfahrungsräume zur Verfügung zu stellen, in denen er sich spielend erlebt. Er braucht Räume, in denen rezeptive und produktive Erfahrungen sanktions- und bewertungsfrei, losgelöst von Normen und Regeln, gemacht werden können, um einen freien, selbstbestimmten und spielerischen Umgang mit Alltagsanforderungen zu erlernen. In diesen Räumen kann Kreativität als schöpferische Teilhabe an identitätsstiftenden Gestaltungsvorgängen verstanden werden, als das Bemühen um ein |25◄ ►26| ausgewogenes Verhältnis zwischen Regression und Progression. Nur durch Wiederherstellung von Spiel- und Erlebnisfähigkeit können soziale, interaktive und kommunikative Kompetenzen erworben werden, die mit darüber entscheiden, ob ein Mensch phantasievoll an die Welt herangeht oder destruktiv.

      Das spielerische Element im künstlerischen Gestalten kann als ursprüngliche und individuelle Form gelten, sich ein eigenes Bild von sich und