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Florian Wilk
Dem Erzähler auf der Spur
Zur Gliederung narrativer Texte im Neuen Testament
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
|V|Vorwort
»Der Reihe nach« oder, wie es in der Lutherbibel heißt, »in guter Ordnung« (Lk 1,3) hat Lukas nach eigenem Bekunden aufgeschrieben, was er vom Lebensweg Jesu zu erzählen hatte. Die Auskunft des dritten Evangelisten hat mir seit den Anfängen meiner exegetischen Bemühungen zu denken gegeben: Welcher Art ist die genannte »Ordnung«, und wie lässt sie sich erfassen? Im Zuge fortgesetzter Beschäftigung mit dem Neuen Testament wurde mir deutlich, dass die Beantwortung der Frage nach dem Aufbau grundlegende Bedeutung für die Interpretation wohl jedes seiner Bücher und Texte hat. Ich bin dieser Frage daher viele Jahre hindurch wiederholt, für mich und im Dialog mit anderen, nachgegangen. Dabei zeigte sich, wie heikel sie ist – und dass sie für jede Textsorte gesondert bearbeitet werden muss. Besonders drängend erschien und erscheint sie mir im Hinblick auf die Erzählungen des Neuen Testaments zu sein. So bin ich froh, nun die lange geplante Studie zum Thema vorlegen zu können. Ich hoffe, sie ist geeignet, die gebotene Aufmerksamkeit für die Strukturen, die solche Texte aufweisen, zu erhöhen und die notwendige Klarheit bei ihrer Analyse zu fördern.
Dank sage ich allen, die die Entstehung der Arbeit gefördert haben: den theologischen Lehrerinnen und Lehrern, die mir allererst ans Herz gelegt haben, sorgfältig auf Textstrukturen zu achten; den Studentinnen und Studenten, die bereit waren, in meinen Lehrveranstaltungen mit mir über die Gliederung neutestamentlicher und in Sonderheit narrativer Texte nachzudenken und zu diskutieren; den Kolleginnen und Kollegen, die mich ermutigten, dieses Buch zu schreiben, und mir in Gesprächen wichtige Anregungen dafür gaben; dem Präsidium der Georg-August-Universität Göttingen, das mir durch Gewährung eines Forschungssemesters die Möglichkeit gab, meine Vorarbeiten in einem Manuskript zusammenzuführen; Herrn Henning Ziebritzki, der den langen Entstehungsprozess der Untersuchung freundlich und mit mancherlei sachdienlichen Hinweisen begleitet hat; und Frau Jana Trispel samt allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Verlag und Setzerei, die den komplizierten Herstellungsprozess mit Geduld und Umsicht bewältigt haben.
Insbesondere aber danke ich all denen, die mich während meiner bisherigen Tätigkeit an der Theologischen Fakultät zu Göttingen als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sowie als wissenschaftliche oder studentische Hilfskräfte unterstützt haben: Dr. Birke Siggelkow-Berner, Ingo Vespermann, Dr. Martin Jagonak, Dr. Martina Janßen, Dr. Frank Schleritt, Wibke Winkler, Julian Bergau und Eduard Käfer sowie Tina Oehm, Sehun Kang, Markus Sauerwein, Prof. Dr. Jacob Wright, Johanna Löber (geb. Rudolph), Ina Jäckel (geb. Schmidt), Heike Rozek (geb. Fürch), Krystyna-Maria Redeker, Valentin Wendebourg, Martijn Wagner, Johanna Waldmann, Dr. Heidrun Gunkel, Swantje Morgenstern, Kristina Krehl (geb. Bode), Kristin Bogenschneider, Janine Müller, Christiane Reschke (geb. Korf), Konrad Otto, Charlotte Behr und Christina Bünger. Die Lern- und Arbeitsgemeinschaft mit ihnen war und ist mir lieb und |VI|teuer. Ihre Recherchen und Korrekturen, ihre Fragen und Gesprächsbeiträge, ihre Hilfsbereitschaft und Sorgfalt sind auch dem vorliegenden Buch teils direkt, teils indirekt zugutegekommen. Ihnen sei es daher gewidmet.
Göttingen, im Februar 2016 Florian Wilk
|1|1. Einleitung
1.1 Die Aufgabe
Wer erzählt, bringt anderen Menschen gegenüber zur Sprache, dass und wie sich ein bestimmtes Geschehen vollzogen hat. Das Erzählen gehört insofern »zu den Basisformen sozialer Kommunikation«[1] – und somit auch zu den Redeweisen, die für die Weitergabe der Christusbotschaft von Anfang an grundlegende Bedeutung hatten.[2] Demgemäß hat es das Neue Testament maßgeblich geprägt: Die Evangelien und die Apostelgeschichte bilden insgesamt narrative Texte,[3] und die Briefe enthalten ihrerseits viele erzählende Passagen[4].
In neuerer Zeit sind daher mit Recht sprach- und literaturwissenschaftliche Verfahren auf die Erzählungen des Neuen Testaments angewendet worden, um diese in ihrer textuellen Eigenart zu erfassen.[5] Dabei wird auch und gerade nach der Struktur oder – mit anderen Worten – dem Aufbau neutestamentlicher Erzählungen gefragt. Die Bestandteile eines Textes sind ja
nicht nur ineinander gehängt wie die Glieder einer Kette, sondern bilden ein mehr oder weniger kompliziertes Gefüge mit Überordnung und Unterordnung, sind zu einem Netz … von Beziehungen untereinander verknüpft, d.h., sie bilden eine Struktur. Durch diese Struktur erst wird aus Wörtern und Sätzen ein einheitliches Ganzes mit einer Gesamtbedeutung.[6]
|2|Auf Erzählungen bezogen bedeutet das:
Ein narrativer Text … entsteht nicht schon dadurch, daß einzelne Episoden rein additiv hintereinander gereiht werden … Vielmehr müssen die im Nacheinander erzählten Ereignisse ›etwas miteinander zu tun haben‹, einen gemeinsamen roten Faden aufweisen, gewissermaßen in einer Syntax der Erzählung aufeinander bezogen, d.h. einander über- und untergeordnet sein, kurz: im Ganzen der Erzählung zu einer Struktur gefügt sein …[7]
Das wissenschaftliche Bemühen, die Strukturen neutestamentlicher Erzählungen zu ermitteln, ist deshalb sehr zu begrüßen. Das gilt umso mehr, als immer noch viele exegetische Untersuchungen zwei markante Lücken aufweisen. Die erste Lücke besteht darin, dass der Aufbau der jeweils behandelten Erzählung zwar beschrieben oder in einer Übersicht dargestellt, aber bei der Einzelinterpretation kaum berücksichtigt wird.[8] Wenn jedoch, wie festgestellt, die »Gesamtbedeutung« eines Textes auf seiner Struktur basiert, sollte diese im Zuge der Auslegung durchgehend Beachtung finden; und die genannte Übersicht müsste dann das Gesamtverständnis des betreffenden Textes widerspiegeln. Zweitens liegt eine Lücke dort vor, wo ein Aufbau skizziert wird, ohne dass man erfährt, aus welchen Beobachtungen und Urteilen die Skizze hervorgegangen ist.[9] Wenn aber die Beschreibung der Struktur eines Textes ein Spiegelbild der Auffassung seiner »Gesamtbedeutung« bildet, muss jene Beschreibung ebenso begründet werden wie die Auslegung selbst.
Die Pflicht, eine Übersicht zum Aufbau einer neutestamentlichen Erzählung zu legitimieren, erwächst im wissenschaftlichen Diskurs zudem bereits aus dem Sachverhalt, dass wohl für jeden derartigen Text verschiedene Strukturmodelle vorliegen, die teils erheblich voneinander abweichen und so in Konkurrenz zueinander stehen. Freilich lässt sich deren Vielfalt nicht einfach dadurch aufheben oder jedenfalls begrenzen, dass alle am Diskurs Beteiligten Rechenschaft ablegen, aus welchen Gründen sie jeweils eine bestimmte Ansicht zum Aufbau der betreffenden Erzählung vertreten. Die Forschungssituation ist gerade durch einen Dissens darüber geprägt, auf welche Weise sich die Ermittlung der Textstruktur zu vollziehen hat.
Uneinigkeit herrscht schon bei der grundlegenden Frage nach der Rangfolge von Synchronie und Diachronie. So legen etwa manche Kommentare zum Johannes-Evangelium nicht den textkritisch hergestellten, sondern einen literarkritisch bearbeiteten Wortlaut der Erzählung aus.[10] Doch selbst wenn man nicht |3|alle »Quellen- und Redaktionstheorien« schlicht für »unbegründbar[ ]« hält und das »im Kanon … überlieferte Werk« a priori »als einen kohärenten … Text interpretieren« will,[11] darf man doch wohl voraussetzen, »daß der letzte Redaktor das Werk als einheitlich … angesehen hat«[12]. Dann aber gilt es, allererst dieses Werk auf seinen Aufbau hin zu untersuchen.[13]
Strittig ist ferner, mit welcher Methodik solch eine Untersuchung durchgeführt werden soll. Einige betrachten die Struktur als »the architectural end-product« des Prozesses, in dem ein Erzähler oder eine Erzählerin einen »plot« geschaffen, also diverse Ereignisse »into a coherent narrative whole« arrangiert habe;[14] sie ermitteln die Struktur deshalb im Rahmen einer narrativen Analyse[15]. Anderen gilt die Struktur eines Textes ebenso als Aspekt seiner sprachlichen Form wie Wortwahl, Stil oder Syntax;[16] sie bedienen sich deshalb